Wo ich frei schreiben kann, ist meine Heimat. Interview mit dem irakischen Schriftsteller Fadhil Al-Azzawi (Amnesty Journal, Februar 2015)

veröffentlicht im Amnesty Journal, Februar 2015

Der heute in Berlin lebende Schriftsteller Fadhil al-Azzawi wurde im multikulturellen Kirkuk geboren. In seinem nun auf Deutsch erschienenen Roman „Der Letzte der Engel“ verarbeitet er sein Leben im Irak. Ein Gespräch über Schreiben in der Diktatur, Exil und den „Islamischen Staat“.

Warum hat es so lange gedauert, bis „Der Letzte der Engel“ auf Deutsch erschienen ist?
Das Buch ist bereits 1992 in Ägypten auf Arabisch erschienen, dann hat es ein großer US-Verlag veröffentlicht. Aber es war sehr schwierig, es auf Deutsch zu veröffentlichen. Die Deutschen scheinen sich nicht für arabische Literatur zu interessieren oder sie kennen sie nicht richtig.

Betrachten Sie dieses Buch als Ihr wichtigstes Werk?
Es ist auf jeden Fall ein Buch, das für mich sehr wichtig ist. Ich war bislang mehr als Lyriker denn als Romancier bekannt. Aber dieses Buch war ein Ereignis in der arabischen Welt. Manche Kritiker haben geschrieben: Der beste Roman auf Arabisch. Fast alle Kritiker haben das Buch gelobt. Ich bin in der arabischen Welt bekannt als experimenteller Schriftsteller, der immer neue Ideen entwickelt. Als ich mein erstes Buch 1969 ver­öffentlicht habe, war es ebenfalls ein Ereignis in der arabischen Welt. Ich habe versucht, alle traditionellen Grenzen zu zerstören, etwas Neues zu machen. Auch in der Sprache, in der Form, stilistisch.

Warum haben Sie diesen historischen Horizont für Ihr Buch gewählt – die fünfziger Jahre, der Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft, die Zeit der Gewerkschaften und kommunistischer Organisationen? War das auch eine Aufarbeitung ­Ihrer eigenen Jugend im Irak?
Nein, ich wollte eigentlich etwas über den Irak erzählen, seine Geschichte, über das, was uns in diese Lage geführt hat. Es ist nicht nur ein Buch über die Vergangenheit, sondern auch über die Gegenwart und über die Zukunft. Die Hauptfigur Burhan ­Abdullah kehrt nach 47 Jahren noch einmal zurück in den Irak. Das Thema ist sehr persönlich, die Geschichte von Burhan hat viel mit meiner eigenen Biografie zu tun. Einige Figuren des ­Romans sind nach den Vorbildern von Verwandten gezeichnet.
Sie beschreiben in dem Buch das multikulturelle Miteinander in Kirkuk in dieser Zeit. Haben Sie Ihre Heimatstadt in den ­vergangenen Jahren noch einmal besucht?
Nein, ich bin seit 1977 nicht mehr in Kirkuk gewesen. Ich konnte unter dem Regime Saddam Husseins nicht in den Irak fahren. Nach 2003 wurde ich zwar mehrmals eingeladen, aber da wollte ich nicht. Ich besuchte nur einmal im Jahr 2000 die kurdische Region, bei einem Aufenthalt in Erbil. Saddam Husseins Herrschaft ging gerade zu Ende, die Kurden dort waren fast befreit. Sie hatten mich zu einem Poesie-Festival eingeladen.

Wie unterscheidet sich das heutige Kirkuk von dem Ihrer Kindheit?
Kirkuk war eigentlich eine Stadt für alle und alle lebten friedlich zusammen – Christen, Kurden, Turkmenen, Araber. Viele unserer Freunde waren Christen, Assyrer oder Armenier. Wir konnten in Kirkuk auch mehrere Sprachen sprechen. Ich spreche zum Beispiel auch Türkisch. Dann hat Saddam Hussein versucht, eine arabische Bevölkerungsmehrheit in der Stadt zu schaffen. Seit 2003 wurde dann versucht, die Stadt kurdisch zu prägen. Von der einstigen Vielfalt ist nicht mehr viel übrig. Vor allem die Christen haben seit 2003 die Stadt und den Irak ver­lassen.

Hat Religion in Ihrem Leben eine große Rolle gespielt?
Nein, ich betrachte Religion als etwas Historisches. Mein Sohn, der jetzt 35 Jahre alt ist, hat mich vor Kurzem am Telefon gefragt, ob wir eigentlich Sunniten oder Schiiten sind. Wir wuss­ten es beide nicht. Ich habe dann mal nachgeschaut, und, naja, auf dem Papier sind wir eben Sunniten.

Haben Sie mit Ihrer irakischen Geschichte abgeschlossen?
Nein, sie ist immer noch präsent. Meine drei Brüder und meine Schwester leben immer noch da. Ich habe Kontakt zu ihnen, auch zu anderen Verwandten. Kirkuk ist mir nah, aber ich habe gelernt, dass es nicht nur um Kirkuk geht, sondern auch um den Irak und um die arabische Welt. Ich war zu Lesungen in Ägypten, im Libanon, in Jordanien, Syrien und den Golfstaaten. Deshalb ist es nicht so tragisch, dass ich nicht in den Irak reisen kann. Wo ich mich frei fühle, wo ich frei schreiben kann, ist meine Heimat. Im Irak wurde ich mehrmals verhaftet wegen eines Gedichts. Aber Gott sei Dank kann ich hier in Deutschland schreiben, was ich will, niemand fragt: Was schreibst du und ­warum? Das ist mir wichtig.

Warum sind Sie ausgerechnet in die damalige DDR gezogen?
Es gab damals ein Abkommen zwischen dem irakischen Schriftstellerverband und der DDR. Eigentlich wollte ich nach England, aber das war nicht möglich. Als ich dann in der DDR war, wurde mir der Pass abgenommen. Später konnte ich dann als Auslandskorrespondent für arabische Medien viel reisen.

So wie Sie leben heute viele irakische Autoren im Exil.
Das Problem begann mit Saddam Hussein Ende der siebziger Jahre. Er stellte die Schriftsteller und Journalisten vor die Wahl: Entweder bist du für mich oder gegen mich. Und wer blieb, musste Propaganda für die Regierung machen. Darum verließen viele Autoren und Künstler das Land. Heute leben mehr irakische Schriftsteller im Ausland als in ihrer Heimat.

Woran ist die Vielfalt im Irak zerbrochen?
Als die US-Armee den Irak besetzte, brauchten sie die Unterstützung der Schiiten, um Saddam Husseins Macht zu brechen. Als es um die Macht ging, haben diese dann versucht, die Gesellschaft zu schiitisieren. Als Reaktion unterstützen nun viele Sunniten den „Islamischen Staat“.

Von der momentanen Regierung sind Sie auch nicht begeis­tert?
Nein. Es ist nicht viel besser als unter Saddam Hussein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Meine Familie besaß ein Haus in Bagdad. Als wir den Irak verlassen mussten, teilte uns die Botschaft mit, dass das Haus beschlagnahmt werde. Nach 2003 bekam die Familie meiner Frau vor Gericht Recht und wir sollten das Haus zurückbekommen. Das ist ja unser Haus. Aber es ist bis heute beschlagnahmt. Und ein Mitarbeiter der Staatssicherheit von Saddam Hussein lebt bis heute dort. Wir kriegen ihn einfach nicht raus.

Fragen: Tanja Dückers

Fadhil al-Azzawi
Fadhil al-Azzawi wurde 1940 in ­Kirkuk, Nordirak, geboren. Er emigrierte 1977 in die damalige DDR nach Leipzig. Al-Azzawi schrieb zahlreiche Romane, Gedichte sowie Essays und übersetzte unter anderem Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ins Arabische. Sein Roman „Der Letzte der Engel“ erschien erstmals 1992 und im vergangenen Sommer nun auch auf Deutsch. Fadhil al-Azzawi lebt heute in Berlin.

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