Wie sich die Digitale Bohème durchs Leben klickt

erschienen in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, Friedrich Ebert-Stiftung, Nr. 1+2, 2016

Die romantische Vorstellung, das Internet würde das Arbeitsleben gerechter und sozialer gestalten, kann nur als Utopie aufgefasst werden. Eher ist das Gegenteil zu beobachten, insbesondere in Hinblick auf Freiberufler und Kreative, oft genug in Personalunion anzutreffen.

Als der französische Soziologe Robert Castell in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts als einer der ersten über die „Prekarisierung“ schrieb, dachte er an eine Gruppe: schlecht bezahlte und gering qualifizierte Arbeiter, denen jederzeit gekündigt werden konnte. Die so genannten neuen Selbstständigen in der Kreativbranche werden jedoch heute  von Sozialwissenschaftlern als Avantgarde neuer „prekärer Arbeitsverhältnisse“ empfunden. In den vergangenen Jahren schafften sie es auf die Titelseiten von „Neon“ bis „Spiegel“ – und wurden wahlweise als „Kreative Klasse“, als „urbanes Pennertum“ oder als „Prekariat“ bezeichnet – in jedem Fall als Vorboten einer sich gerade umgestaltenden, stark von den digitalen Medien geprägten Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft aufgefasst – als neues gesellschaftliches Milieu, das sich vom Bildungsgrad und Habitus deutlich von der so genannten Unterschicht unterscheidet, obwohl die Einkommen oft ähnlich niedrig sind. Neu auch, weil sie häufig Berufen in der Internetbranche nachgehen, die es vor Kurzem nicht gab – wie etwas Voice-User-Interface-Designerin, Gamedesigner oder, fast schon altmodisch, Webdesigner.

Vertreter des von dem amerikanische Politikwissenschaftlers Richard Florida schon vor Jahren als „Kreative Klasse“ bezeichneten gesellschaftlichen Segments sind mittlerweile in allen größeren Städten anzutreffen. Für ihre Ideen benötigen die Kreativen keine großen Bankkredite, Ölquellen oder Fabrikhallen. Meist reicht ein Lap Top, ein Internetzugang und eine billige Bude.

Manche sahen in ihnen eine große Chance: Seit fast einer Dekade geistert der Begriff der „Digitalen Bohème“ durchs digitale und analoge Universum. „Wir nennen es Arbeit”, hatte das Berliner Autorenduo Holm Friebe (Jg. 1972) und Sascha Lobo (Jg. 1975)  diesen Entwurf eines „intelligenten Lebens jenseits der Festanstellung” im Titel ihres Bestsellers lässig zusammengefasst. Ein Buch, über dessen Optimismus man sich wundern konnte. Vor allem spiegelte er die Aufbruchsstimmung kurz nach den Nullerjahren und die Hoffnungen auf die positiven Veränderungen, die das Internet für Kreative bedeuten würde, wieder. Ihm vorausgegangen war eine Reihe anderer Publikationen, in denen dem Internet eine heilsbringende Wirkung zugeschrieben wurde. Jeremy Rifkin beschwörte das „Ende der Arbeit” herauf, David Brooks sah nur noch überall „Bobos” und den „Lebensstil der neuen Elite” am Werk.

Die „Digitale Bohème“ nun versucht, laut Friebe und Lobo, mit Hilfe der neuen Technologien, den herkömmlichen „9 to 5“-Jobs, den schnöden Zwängen des Angestellten-Dasein zu entkommen und sich eine eigene Lebens- und Arbeitswelt  zu schaffen. Selbstverwirklichung hat oberste Priorität. „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps“ – diese Credo der alten Leistungsgesellschaft hat seine Gültigkeit verloren. Die Bohèmians gehen „langweiligen“ Gewerkschaften und Berufsverbänden  aus dem Weg und pflegen stattdessen informelle Netzwerke. Arbeit und Freizeit, private Interesse und berufliche Ambitionen gehen darin angeblich „eine glückliche Symbiose“ ein.

So lautet die Theorie zur „Digitalen Bohème“ – in der Praxis sieht es jedoch oft anders aus: Die Verschmelzung von Wohnung und Büro begünstigen den Overkill durch Arbeit. Es kann zwar immer öfter von zuhause gearbeitet werden, Arbeitsaufträge werden per Mail, oft ohne Werkvertrag, vergeben, überall auf der Welt können Mitarbeiter, die z.B. Programme schreiben, Ideen entwickeln oder Texte verfassen,  gewonnen werden. Die Flexibilisierung der Arbeit, die Mobilität und auch die Isolation der  – temporären – Mitarbeiter – wurde enorm vorangetrieben.

Ausbeutung und Selbstausbeutung gehen bei Freiberuflern Hand in Hand. Beinahe jede Ausbeutung muss als Selbstausbeutung beschrieben werden, da ein freier Kreativer ja im Gegensatz zu einem Angestellten auch einen Auftrag oder ein Projekt auch ablehnen kann. Aus finanziellen Gründen tut er es oft nicht. Innerhalb des Spielraum, der sich ihm bietet, entscheiden sich jedoch viele Freiberufler für die für

sie jeweils aufwändigste Variante, von der sie sich das meiste Renommee erhoffen. Für diese neue Mischung aus Flexibilität und Ausbeutung hat Pierre Bordieu den treffenden Ausdruck „Flexploitation“ gefunden. Ein Aspekt der Selbstausbeutung ist das Multitasking, die Betätigung in vielen verschiedenen Berufsfeldern. Auch hier verleitet das Internet dazu, zu meinen, sich mit einer Website und einem neuen Facebook-Profil ein neues Berufsbild zulegen zu können. Heute bezeichnet sich kaum noch jemand lediglich als Maler, Musiker, Schriftsteller oder Journalist. Er gibt immer mindestens drei Berufsbezeichnungen an. Ein typisches Beispiel einer wenngleich zur Zeit erfolgreichen Unterhaltungskulturschaffenden ist Charlotte Roche. Sie  bezeichnet sich ohne Umschweife als Moderatorin, Produzentin, Sängerin, Schauspielerin, Sprecherin und Schriftstellerin. Manch einer sehnt sich da nach den 9 to 5-Zeiten zurück.

Im Übrigen ist den euphorischen „Digitalen Bohème“-Apologeten entgegenzuhalten: Auch kreative Jobs bietet nicht nur Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung – es entstehen neue, andere Zwänge. Der Chef im eigenen Kopf kann durchaus unbarmherziger als der Chef im Nebenzimmer sein. Nicht immer bedeuten flache Hierarchien im Vergleich zu klar autoritär strukturierten Arbeitsorganisationen weniger Mobbing. Freunde sind oft Kollegen und Konkurrenten. Gespräche in Cafés und Kneipen arten fast immer zu Kantinenersatzgesprächen aus, Freunde müssen Beraterfunktionen übernehmen und werden nicht selten für Projekte eingespannt. Oft arbeiten sie auch mit ihrem Partner an gemeinsamen Projekten. Ein Scheitern führt nicht selten zu einem Verlust nicht nur des Arbeitsfeldes, sondern auch des Freundeskreises und der Intimbeziehung. Das Private als räumliche und zeitliche Ausruhzone von der Arbeit ist weitgehend eliminiert worden. Aus der von den digitalen Glücksrittern, den Photoshop-Fricklern, Freelance-Designern und Freizeit-Bloggern, so gefeierten Symbiose von Arbeit und Freizeit wird oft einfach nur Arbeit in den eigenen vier Wänden bis nach Mitternacht. Wochenenden und Feiertage haben keinerlei arbeitsentlastende Relevanz für Freiberufler, denen das Internet rund um die Uhr zur Verfügung steht. Die freien Kreativen haben nolens volens ihren Teil dazu beigetragen, dass wir uns heute nicht mehr nur in einer  Wettbewerbswirtschaft befinden, sondern in einer Wettbewerbsgesellschaft.

Manches kommt bei den „Digitalen“ auch nur im neuen Gewand daher: Was Friebe und Lobo als „Respektnetzwerke“ und als die „Währung Respekt“ bezeichnen, sind nur coolere Ausdrücke für „Seilschaften“, „Filz“ oder „Vitamin B“.

Hinzu kommt, dass sich die vermeintlich scharfe Trennung zwischen angeblich „biederen“ Angestellten und „unkonventionellen“ Freiberuflern längst verflüchtigt hat. Schon hat sich der flexible Geist in den Amtstuben breit gemacht, werden die Büros mobil und Grenzen zwischen Freiberuflern und Angestellten fließend. Der Dienst nach Vorschrift ist vorbei, statt Festanstellung gibt es Zeitverträge und Zielvorgaben. Profitcenter und Benchmarketing haben sich selbst in die letzten Hinterzimmer eingeschlichen. Heute muss jeder Angestellte flexibel sein und aus eigener Initiative mehr leisten als je zuvor – auch zuhause und am Wochenende -, wenn er seinen Job behalten will.

Seit den frühen neunziger Jahren, mit dem Aufstieg des Internets, begann sich nicht nur der Arbeitsbereich auf die privaten Lebenswelten auszudehnen, auch das Private wurde zunehmend ökonomisiert.  Ehemals abhängig Beschäftigte verwandeln sich in autonome Unternehmer, die eigenverantwortliche  Investitionsentscheidungen treffen, wobei sie in der Regel nur über ein Mittel verfügen: ihre eigene Arbeitskraft.

Als „Arbeitskraftunternehmer“ haben die beiden Soziologen Günter Voss und Hans J. Pongratz diesen  neuen Typ beschrieben. Charakteristisch für ihn ist vor allem die „erweiterte Selbst-Ökonomisierung“ und der „Verbetrieblichung der Lebensführung“: Die  Beschäftigten müssen lernen, ihre eigene Arbeitskraft mit unternehmerischer Effizienz zu verwerten. Sie müssen ihre Arbeitskraft permanent selbstständig entwickeln und bewusst produzieren sowie planmäßig Selbstmarketing betreiben. Sie sind Künstler im Sinne von schöpferischer Produzent, PR-Stratege, Manager und Sekretär in Personalunion und in eigener Sache. Selbstverwirklichung und Selbstverwertung werden dabei zu austauschbaren Begriffen. „Dabei wird das autonome Handeln nicht nur als eine Möglichkeit oder als Recht präsentiert. Man verlangt es gewissermaßen von den Menschen, deren Wertigkeit immer häufiger an ihrem Selbstverwirklichungspotenzial gemessen wird“, konstatieren die beiden französischen Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Ève Chiapello.

Im Nachhinein muss man sagen: Nur mit dem Satz „Die digitale Bohème verändert die Arbeitswelt“ haben die Autoren zweifellos recht gehabt. In Berlin gehen beispielsweise nur noch zwei Drittel Prozent der Beschäftigten einer abhängigen Vollzeit-Tätigkeit nach. Das restliche Drittel versucht sich als Existenzgründer oder arbeitet in prekären, ungesicherten Dienstleistungsunternehmen. Tendenz weiter steigend. Zwangsoptimismus allein führte jedenfalls noch nicht zu dem „leidenschaftlichen Gegenentwurf zum Neoliberalismus“, den Friebe und Lobo angekündigt hatten. Kolja Mensing resümierte in der taz resigniert: „Dass die ‚digitale Bohème’ ein globales Phänomen ist und ihre Angehörigen sich im Zuge der Globalisierung in Indien, China und auch sonst überall auf der Welt ‚unbekümmert und mit Spaß’ vor den Monitor setzen, ist natürlich Wunschdenken“.

Wie sieht es mit den Einkommensverhältnissen aus?

Nach Angaben der (parteiübergreifenden) Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ verdienen selbständige Künstler dem Bericht zufolge gerade mal 10.800 Euro im Jahr. Arme Avantgarde. „Trotz ihrer hohen Qualifikation verfügen sie aber oft nur über ein relativ bescheidenes Einkommen und arbeiten unter risikoreichen Bedingungen“, heißt es in dem 512 Seiten starken Bericht fast beschönigend.

Einem Beitrag mit dem Titel „Frei, aber arm“ in der Sendung „Monitor“ zufolge sind rund 15 Prozent der deutschen Architekten arbeitslos. Etwa 30 Prozent der freiberuflichen Architekten verdienen monatlich weniger als 1250 Euro netto. Ähnlich ist die Lage von Journalisten und Rechtsanwälten: Freie Zeitungsjournalisten verdienen durchschnittlich 1200 Euro netto im Monat.

Die marode finanzielle Situation vieler Kreativer liegt aber nicht nur in ihrem mangelnden wirtschaftlichen Geschick begründet. Ein weiteres großes Problem ist das schon sehr oft in den Urheberrechtsdebatten der letzten Jahre erwähnte illegale Downloaden. Selbst diejenigen, die bisher mit der kreativen Selbständigkeit erfolgreich waren, steht plötzlich neuen Problemen gegenüber. Ein Beispiel soll hier für viele stehen: Ekkehard Ehlers brachte die CD „A Life Without Fear“ heraus und wurde in der Presse als Deutschlands musikalische Antwort auf Brian Eno gefeiert. Bei einem ausverkauften Konzert in Schweden wurde er von Fans begrüßt, die T-Shirts mit Motiven des CD-Covers trugen. Wochen später kam für Ehlers der Schock: „Ich habe in ganz Schweden nur zwei CDs verkauft!“ Und auch in Deutschland verkaufte sich das Album nur tausend Mal. Gleichzeitig zählte Ehlers 25.000 kostenlose Downloads im Internet. Als Musiker sei er von seinen eigenen Fans enteignet worden. So fehlte Ehlers nicht nur das Geld, um neue Musik zu produzieren, sondern auch seinen sonstigen Lebensunterhalt. Er hat Zahnlücken, weil er sich keine Behandlung leisten kann. Nun hält sich Ekkehard Ehlers mit einem Job als Saunameister über Wasser.

Vor allem haben die Kreativen am Monitor bisher versäumt, gemeinsam Rechte zu formulieren und zu fordern. Bisher war die „Digitale Bohéme“ eine der wenigen Ansätze überhaupt, von den vielen Freiberuflern in kreativen Arbeitsfeldern als Gruppe zu sprechen. Doch ein Laptop, ein Latte Macchiato und eine coole Idee haben für die Mehrzahl der Selbständigen in den kreativen Bereichen nicht ausgereicht, um glücklich zu werden und die Miete bezahlen zu können. Abgesehen von ein paar unverbesserlichen Alt- und Neoliberalen will niemand zurück in die Zeiten, als die Festanstellung am Fließband garantiert und das Leben bis in die Kapillaren der sozialen Beziehungen reguliert war. Aber auf Solidarität kann ein freier Individualismus langfristig nicht verzichten, wenn die prekären Verhältnisse verändert werden sollen. Was sie müssen.

Ob sich in absehbarer Zeit jedoch mehr Formen von Solidarität und Protest ergeben werden, ist schwer vorauszusehen. Selten wurde jenseits der Hartz-IV-Empfänger so wenig gegen bestehende Arbeitsverhältnisse rebelliert. Im Vergleich zu den Massenprotesten, die Arbeiter in den 60er und 70 er Jahren stattfanden, befinden wir uns in einer protestarmen Zeit.

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