Für Christa Wolf zum 80. Geburtstag (Wallstein Verlag, 2009)

“sich aussetzen. das Wort ergreifen, Texte und Bilder zum 80. Geburtstag von Christa Wolf”, Wallstein, Göttingen 2009

Es gibt für jüngere Schriftsteller kaum etwas Aufregenderes als einen älteren Schriftsteller, mit dessen Werk man sich über Jahre intensiv beschäftigt hat, plötzlich leibhaftig gegenüber zu treten. Als ich mich im Deutsch-Leistungskurs Ende der 80er Jahre in Berlin-West mit „Kassandra“ und auch mit den „Voraussetzungen“ auseinandersetzte, später im Germanistik-Studium dann mit dem epochalen „Kindheitsmuster“ und anderen Werken, ahnte ich noch nicht, daß ich Christa Wolf einmal gegenüber sitzen und wir uns drei Stunden lang ungezwungen miteinander unterhalten würden.

Heute erhalte ich von Schülern, die Romane oder Erzählungen von mir in der Schule lesen müssen, flotte Mails, die mich wegen ihres respektlosen Tonfalls amüsieren.
Oft fehlt die Anrede oder sie lautet „Hallo Tanja Dückers“ oder gleich „Hallo Tanja“. Dann wird umstandlos um Hilfe für ein Referat oder eine Hausarbeit gebeten. „Erklären Sie mir bitte, was Sie mit dem Roman sagen wollen und warum sie ihn so und nicht anders geschrieben haben. Schreiben Sie bitte mir auch was über die Bedeutung ihrer Hauptpersonen. Vielen Dank schon mal!! Ihre verzweifelte Ines.“ Eine Schülerin gab unumwunden zu: „Ich bin in der 9. Klasse und muss gerade ‚Spielzone’ lesen. Ich weiß nicht, was ich von dem Buch halten soll – und jetzt muss ich auch noch ein Referat darüber halten … in drei Tagen!! Hoffentlich lesen Sie meine Mail rechtzeitig. Sie müssen mir helfen, ich komme mit dieser ‚Spielzone’ echt nicht klar (…)“. Es gibt auch überbordend freundliche Mails. Meist jedoch auch mit einem Wunsch verbunden. „Hey Frau Dückers, ‚Café Brazil’ finde ich echt klasse!!! Nächste Woche bin ich in Berlin – hätten Sie Lust, mir und meinen Freunden ein paar Orte aus ihren Erzählungen zu zeigen? Die gibt’s doch alle echt, oder? Ich könnte für unsere Schülerzeitschrift was schreiben: Spaziergang mit Frau Dückers oder so – wäre sehr cool für mich.“ Man soll dieser Generation nicht nachsagen, sie sei nur brav, duckmäuserisch und angepasst, wie Jens Jessen unlängst in der ZEIT behauptete. Sie kann ihre Wünsche und Forderungen sehr selbstbewusst formulieren und unnötigen Kommunikationsballast rigoros streichen.
So mutig war ich damals im Deutsch-LK jedenfalls bei Weitem nicht – und Briefe schreiben sich eben auch nicht ganz so flott wie Emails. Ich hätte mich nicht einmal im Studium getraut, einen Brief an Frau Wolf zu richten. Ich verehrte ihre Bücher, aber sie war mir so fern wie Emily Dickinson oder wie Nelly Sachs, die längst gestorben waren und die ich auch verehrte. Dabei lebte sie nur ein paar Kilometer entfernt von mir. Aber das ist eine andere Geschichte.
Vor einigen Jahren fragte mich die Zeitschrift BRIGITTE, ob ich an einem Doppel-Interview gemeinsam mit Christa Wolf teilnehmen wolle. Eine Journalistin der BRIGITTE würde sich mit uns beiden unterhalten wollen – es würde um den Blick der Nachgeborenen zweier Generationen auf die Kriegszeit und das geteilte Land gehen, um Blicke aus Ost und West, um den Dialog einer Frau, die der Kriegskindergeneration angehört und einer noch Jüngeren, die Fragen an die Älteren stellt. Es solle um unsere Romane „Kindheitsmuster“ und „Himmelskörper“ gehen – so unangenehm es mir ist, unsere beiden Bücher in einem Atemzug aufzuzählen.
Ich hatte vieles nicht nur von, sondern auch über Christa Wolf gelesen, aber ich hätte sie mir doch nie so vorstellen können wie ich sie dann erlebt habe: Vollkommen frei von Dünkel, liebenswürdig und neidfrei (hat sie ja auch nicht nötig, aber andere, die es auch nicht nötig haben, treten gelegentlich trotzdem ziemlich konkurrenzbetont gegenüber jungen Autoren auf), vollkommen ohne Allüren – endlich mal keine Kommentare wie: „Wieso interessieren Sie sich überhaupt für diese alten Geschichten … Sie können das ja gar nicht beurteilen, Sie haben den Krieg ja nicht erlebt“ – keinerlei Kompetenzstreitigkeiten auf intellektuellem Gebiet, kein unterschwelliges Revierabstecken, keine Machtdemonstration durch Altersvorsprung – nichts. Man redete auf Augenhöhe. Trotz 40 Jahren Altersunterschied. Dafür die geistige Suche nach Gemeinsamkeiten oder auch ganz offen und ohne Angst die Suche nach Dissens, nach anderen Herangehensweisen.  In der Tat habe ich diese Art von selbstkritischem unegozentrischen Auftreten eher bei Künstlern aus der ehem. DDR als bei Westlern angetroffen – freilich ein Klischee, das sich mir jedoch durch Privatempirie bestätigt hat. Aber mehr noch: Man hat das Gefühl, Christa Wolf ist trotz eines beeindruckenden Lebenswerks (eine Nebenbemerkung zum Thema Nobelpreis: Ungerechterweise laufen Autoren mit DDR-Hintergrund ihr Leben lang immer als DDR-Autoren, BRD-Autoren gelten aber gern als gesamtdeutsch), trotz fortgeschrittenem Lebensalter sich immer nur als Suchende begreift, sich nicht zufrieden gibt mit dem, was sie erreicht hat. Sie spricht über ihre Bücher wie über die Werke eines anderen, mal mäkelt sie daran herum, etwas anderes hält sie für „einigermaßen ordentlich“. Sie benutzt ihre Werke nicht, um sich selbst zu vergrößern, sondern um hinter ihnen zurückzutreten.
Kurz nach unserem gemeinsam Gespräch für die BRIGITTE erschien Wolfs „Ein Tag im Jahr 1960 – 2000“, und mir gefiel die Idee sehr gut, jedes Jahr an einem bestimmten Tag persönliche Gedanken festzuhalten. Das Zwanghafte des täglichen  Tagebuchschreibens entfällt bei diesem pars-pro-toto-Ansatz. Ich gestand Christa Wolf in einem Brief, dass ich die Idee großartig fände und sie nun überlegte, sie auch für mich zu übernehmen. Ich erwartete, dass Christa Wolf diese Form von Nachahmerei missfallen würde. Doch nein, ich erhielt umgehend eine schriftliche Antwort, dass sie sich freut, wenn diese Idee von anderen weitergetragen wird.

Wer weiß, was ich Christa Wolf heute so mailen würde, wenn ich Anno 2009 im Deutsch-LK „Kassandra“ oder „Christa T.“ läse. Aber das Schöne an Christa Wolfs Büchern ist: sie lassen einen mit Fragen zurück, von denen man ahnt, dass sie unbeantwortbar sind. Und ausbleibende Antworten haben die Wirkungen von Büchern schon immer verstärkt.

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