Im Jahr 2009 ist die Geburtenrate in Deutschland weiter gesunken. Auf der Suche nach Gründen werden nahe liegende Ursachen übersehen. Tanja Dückers kommentiert.
VON: Tanja Dückers 01.02.2010 – 13:56 UhrPlötzlich wird die Frage aufgeworfen, ob die Deutschen nicht religiös genug seien, weil sie so wenige Kinder bekommen. Malte Lehming hat dieses Thema unter dem Titel „Religiöser werden für mehr Kinder“ aufgegriffen.
Doch die vermutete Korrelation zwischen Religiosität und Geburtenrate ist – auf Europa bezogen – schlicht Unfug: Europas Katholikennation Nummer Eins, Polen, hat, wie auch einige andere postkommunistische Länder, eine niedrige Geburtenrate, ebenso die katholisch geprägten Länder Portugal, Spanien und Italien.
„Fruchtbarkeits-Europameister“ (so französische Medien) ist hingegen zum dritten Mal infolge Frankreich (pro Frau werden dort 2,02 Kinder geboren, in Deutschland 1,35 Kinder) – ein Land mit vergleichsweise wenig konfessionell gebundenen Bürgern. Gleiches gilt für die skandinavischen Länder, deren Geburtenzahlen ebenfalls zu den höchsten in Europa zählen.
Auch die Differenzierung zwischen „tradierten“ und „vitalen“ religiösen Gesellschaften verwirrt eher, als dass sie einen Sinnzusammenhang zur Geburtenrate erhellen würde – eine „vital“ gelebte und eine „tradierte“ Religiosität schließen sich oft nicht aus, sondern existieren parallel zueinander in unterschiedlichen Alterskohorten oder sozialen Milieus. Und viele Menschen, auch in Deutschland, leben ihre Religiosität in verschiedenen Lebensabschnitten oder -phasen mit unterschiedlicher Intensität. Die Begriffe suggerieren eine Statik im Denken und Fühlen, die nicht der Wirklichkeit entspricht.
Überhaupt: Wer pauschal von einer mangelnden Religiosität spricht, geht vor Luther zurück, der das intime Zwiegespräch zu Gott höher hielt als klerikal-kollektiven Prunk und Pathos – und genau diese Art von intim-privater Religiosität, die durchaus von vielen Menschen in postmodernen Dienstleistungsgesellschaften gelebt wird, lässt sich nicht an der Zahl von Kirchenbesuchen, -eintritten oder -austritten ermessen.
Tanja Dückers,
Foto: Elisabeth Gehlen1968 geboren in West-Berlin,Studium der Kunstgeschichte, Amerikanistik und Germanistik1999 veröffentlicht sie ihren ersten Roman „Spielzone“2000 erhält sie den Förderpreis des „Literaturpreises Ruhrgebiet“Zuletzt erschienen 2006 ihr Roman „Der längste Tag des Jahres“ und 2007 der Essayband „Morgen nach Utopia“Offenbar fehlt im Moment jeder Gradmesser für die Gründe des Geburtenrückgangs in Deutschland. Und es wird wieder einmal die Schuld beim Einzelnen gesucht, ihm, vor allem jedoch: ihr, der Frau, ins Gewissen geredet und in ihr ein moralisches Defizit vermutet, anstatt – ganz profan – den Blick auf die familienpolitischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte zu richten: Denn die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder sind hierzulande nach wie vor absolut unzureichend.
In den alten Bundesländern gibt es in vielen Regionen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für nur fünf Prozent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte (Frankreich: fast 50 Prozent). Während es in Deutschland auch noch für ein Drittel der Kinder im Alter von über drei Jahren keinen Platz gibt, gehen in Frankreich fast 100 Prozent der über Dreijährigen in eine Kindertagesstätte.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum bei dem nunmehr jahrzehntelangen Gejammer über das drohende Aussterben der Deutschen nicht früher etwas an diesem Missstand geändert wurde. Dass erst ab 2013 ein Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren garantiert werden kann, ist ein Skandal. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die meisten Familien heute auf zwei Einkommen und damit auf einen Betreuungsplatz für ihre Kinder angewiesen sind.
Die arbeitsmarktstrukturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben entscheidend dazu beigetragen: Wie in kaum einem anderen Land in Westeuropa hat sich in Deutschland ein gigantischer Niedriglohnsektor etablieren können, die Realeinkommen sind weit stärker als im EU-Durchschnitt gesunken.
Ferner hat sich die Zahl der Selbstständigen in den letzten 20 Jahren rasant erhöht (nach Angaben des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn arbeitete im Jahr 2008 jede dritte Frau in Deutschland auf selbstständiger Basis). Da für Selbstständige die Arbeit nicht einfach mit der Geburt eines Kindes aufhört, sind sie besonders auf ein gut ausgebautes Betreuungssystem angewiesen.
In jedem Fall kann es sich die Mehrzahl der Berufstätigen hierzulande nicht (mehr) leisten, weniger zu verdienen oder auf ein Gehalt zu verzichten. In „postfeministischen“ Zeiten gehen Frauen schon lange nicht mehr ausschließlich aus Gründen der „Selbstverwirklichung“ arbeiten (dieser Aspekt dürfte für die Kassiererin bei Lidl oder die freundliche Dame am anderen Ende der Hotline auch wenig ausschlaggebend sein), sondern, weil das Einkommen des Mannes nicht ausreicht.
Insofern sind die in den letzten Jahren mit viel medialem Tamtam geführten Diskussionen um kinderlose „Karrierefrauen“ völlig fehl am Platz gewesen. Nach wie vor muss eine Frau in Deutschland damit rechnen, dass die Geburt eines Kindes zum langfristigen oder endgültigen beruflichen Ausscheiden führt. Dabei fühlen sich Frauen in Deutschland nach dem veränderten Scheidungsgesetz noch stärker unter Druck gesetzt, arbeiten zu müssen. Denn wenn die Ehe scheitert, erhalten sie nun nur noch wenige Jahre Unterhalt.
Noch in jüngster Zeit wurden fragwürdige Prioritäten gesetzt (die Abwrackprämie konnte schneller beschlossen werden als eine Erhöhung der Kinderbetreuungsplätze). Nur wenige zukunftsweisende Impulse wurden für eine zeitgemäße Familienpolitik gegeben. Während in Deutschland die Herdprämie diskutiert wird, sagt der französische Familienminister Philippe Bas provokant „Kinder sind erfolgreicher, wenn die Mutter arbeitet“. Zumindest zeigen vom französischen Familienministerium in Auftrag gegebene Studien, dass die Berufstätigkeit der Mütter kein Handicap für den Erfolg der Kinder in der Schule ist.
Zu dem umfassenden Betreuungsangebot kommen in Frankreich großzügige finanzielle und steuerliche Erleichterungen, vor allem nach Geburt des zweiten Kindes, sowie Anreize für den raschen beruflichen Wiedereinstieg der Mütter hinzu. Denn auch die französischen Familien sind meist auf zwei Gehälter angewiesen. Eltern, die drei Kinder haben, sind faktisch von der Steuer befreit. Und es gibt ein dreijähriges Elterngeld. Auch im Detail sind die „französischen Verhältnisse“ familienfreundlicher: Einem Vater in Deutschland steht nach der Geburt seines Kindes ein arbeitsfreier Tag zu, in Frankreich sind es vierzehn Tage. Und Mütter erhalten 16 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub.
Die französische Sozialpsychologin Dominique Frischer ist überzeugt davon, dass die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit der Grund für den französischen Baby-Boom ist. Auf die höhere Anzahl von Migrantenkindern ist die Geburtenrate jedenfalls nicht zurückzuführen. Einwanderer in Frankreich passen sich nämlich in ihrer Geburtenrate relativ bald dem Landesdurchschnitt an.
Auch in der Bildung sind in Deutschland große Versäumnisse zu verzeichnen: Die hierzulande geleistete „Aufklärungsarbeit“ scheint eher einem überbevölkerten asiatischen Schwellenland zu entsprechen als einer ergrauenden Industrienation. In der Schule wird umfassend über Verhütungsmethoden informiert – was selbstverständlich seine Berechtigung hat –, aber niemand klärt junge Menschen hinreichend darüber auf, wie schnell die Fruchtbarkeit nach dem 30, vor allem nach dem 35. Lebensjahr, sinkt. Martin Spiewak schreibt in der ZEIT: „Gewachsen ist die Zahl der Paare, die sich spät fürs Kinderkriegen entscheiden und dann überrascht feststellen, dass es leichter ist, eine Schwangerschaft zu vermeiden – was bisher ihre größte Sorge war –, als schwanger zu werden.“ Der Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig, Elmar Brähler, plädiert daher entschieden dafür „in der Schule nicht nur über Verhütung zu reden, sondern auch davon, dass Fruchtbarkeit mit dem Alter abnimmt.“Es gibt also familien- und bildungspolitisch viel zu tun. Zuviel, um ins Metaphysische abzugleiten.
Im Jahr 2009 ist die Geburtenrate in Deutschland weiter gesunken. Auf der Suche nach Gründen werden nahe liegende Ursachen übersehen. Tanja Dückers kommentiert.
Plötzlich wird die Frage aufgeworfen, ob die Deutschen nicht religiös genug seien, weil sie so wenige Kinder bekommen. Malte Lehming hat dieses Thema unter dem Titel „Religiöser werden für mehr Kinder“ aufgegriffen.
Doch die vermutete Korrelation zwischen Religiosität und Geburtenrate ist – auf Europa bezogen – schlicht Unfug: Europas Katholikennation Nummer Eins, Polen, hat, wie auch einige andere postkommunistische Länder, eine niedrige Geburtenrate, ebenso die katholisch geprägten Länder Portugal, Spanien und Italien.
„Fruchtbarkeits-Europameister“ (so französische Medien) ist hingegen zum dritten Mal infolge Frankreich (pro Frau werden dort 2,02 Kinder geboren, in Deutschland 1,35 Kinder) – ein Land mit vergleichsweise wenig konfessionell gebundenen Bürgern. Gleiches gilt für die skandinavischen Länder, deren Geburtenzahlen ebenfalls zu den höchsten in Europa zählen.
Auch die Differenzierung zwischen „tradierten“ und „vitalen“ religiösen Gesellschaften verwirrt eher, als dass sie einen Sinnzusammenhang zur Geburtenrate erhellen würde – eine „vital“ gelebte und eine „tradierte“ Religiosität schließen sich oft nicht aus, sondern existieren parallel zueinander in unterschiedlichen Alterskohorten oder sozialen Milieus. Und viele Menschen, auch in Deutschland, leben ihre Religiosität in verschiedenen Lebensabschnitten oder -phasen mit unterschiedlicher Intensität. Die Begriffe suggerieren eine Statik im Denken und Fühlen, die nicht der Wirklichkeit entspricht.
Überhaupt: Wer pauschal von einer mangelnden Religiosität spricht, geht vor Luther zurück, der das intime Zwiegespräch zu Gott höher hielt als klerikal-kollektiven Prunk und Pathos – und genau diese Art von intim-privater Religiosität, die durchaus von vielen Menschen in postmodernen Dienstleistungsgesellschaften gelebt wird, lässt sich nicht an der Zahl von Kirchenbesuchen, -eintritten oder -austritten ermessen. Offenbar fehlt im Moment jeder Gradmesser für die Gründe des Geburtenrückgangs in Deutschland. Und es wird wieder einmal die Schuld beim Einzelnen gesucht, ihm, vor allem jedoch: ihr, der Frau, ins Gewissen geredet und in ihr ein moralisches Defizit vermutet, anstatt – ganz profan – den Blick auf die familienpolitischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte zu richten: Denn die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder sind hierzulande nach wie vor absolut unzureichend.
In den alten Bundesländern gibt es in vielen Regionen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für nur fünf Prozent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte (Frankreich: fast 50 Prozent). Während es in Deutschland auch noch für ein Drittel der Kinder im Alter von über drei Jahren keinen Platz gibt, gehen in Frankreich fast 100 Prozent der über Dreijährigen in eine Kindertagesstätte.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum bei dem nunmehr jahrzehntelangen Gejammer über das drohende Aussterben der Deutschen nicht früher etwas an diesem Missstand geändert wurde. Dass erst ab 2013 ein Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren garantiert werden kann, ist ein Skandal. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die meisten Familien heute auf zwei Einkommen und damit auf einen Betreuungsplatz für ihre Kinder angewiesen sind.
Die arbeitsmarktstrukturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben entscheidend dazu beigetragen: Wie in kaum einem anderen Land in Westeuropa hat sich in Deutschland ein gigantischer Niedriglohnsektor etablieren können, die Realeinkommen sind weit stärker als im EU-Durchschnitt gesunken.
Ferner hat sich die Zahl der Selbstständigen in den letzten 20 Jahren rasant erhöht (nach Angaben des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn arbeitete im Jahr 2008 jede dritte Frau in Deutschland auf selbstständiger Basis). Da für Selbstständige die Arbeit nicht einfach mit der Geburt eines Kindes aufhört, sind sie besonders auf ein gut ausgebautes Betreuungssystem angewiesen.
In jedem Fall kann es sich die Mehrzahl der Berufstätigen hierzulande nicht (mehr) leisten, weniger zu verdienen oder auf ein Gehalt zu verzichten. In „postfeministischen“ Zeiten gehen Frauen schon lange nicht mehr ausschließlich aus Gründen der „Selbstverwirklichung“ arbeiten (dieser Aspekt dürfte für die Kassiererin bei Lidl oder die freundliche Dame am anderen Ende der Hotline auch wenig ausschlaggebend sein), sondern, weil das Einkommen des Mannes nicht ausreicht.
Insofern sind die in den letzten Jahren mit viel medialem Tamtam geführten Diskussionen um kinderlose „Karrierefrauen“ völlig fehl am Platz gewesen. Nach wie vor muss eine Frau in Deutschland damit rechnen, dass die Geburt eines Kindes zum langfristigen oder endgültigen beruflichen Ausscheiden führt. Dabei fühlen sich Frauen in Deutschland nach dem veränderten Scheidungsgesetz noch stärker unter Druck gesetzt, arbeiten zu müssen. Denn wenn die Ehe scheitert, erhalten sie nun nur noch wenige Jahre Unterhalt.
Noch in jüngster Zeit wurden fragwürdige Prioritäten gesetzt (die Abwrackprämie konnte schneller beschlossen werden als eine Erhöhung der Kinderbetreuungsplätze). Nur wenige zukunftsweisende Impulse wurden für eine zeitgemäße Familienpolitik gegeben. Während in Deutschland die Herdprämie diskutiert wird, sagt der französische Familienminister Philippe Bas provokant „Kinder sind erfolgreicher, wenn die Mutter arbeitet“. Zumindest zeigen vom französischen Familienministerium in Auftrag gegebene Studien, dass die Berufstätigkeit der Mütter kein Handicap für den Erfolg der Kinder in der Schule ist.
Zu dem umfassenden Betreuungsangebot kommen in Frankreich großzügige finanzielle und steuerliche Erleichterungen, vor allem nach Geburt des zweiten Kindes, sowie Anreize für den raschen beruflichen Wiedereinstieg der Mütter hinzu. Denn auch die französischen Familien sind meist auf zwei Gehälter angewiesen. Eltern, die drei Kinder haben, sind faktisch von der Steuer befreit. Und es gibt ein dreijähriges Elterngeld. Auch im Detail sind die „französischen Verhältnisse“ familienfreundlicher: Einem Vater in Deutschland steht nach der Geburt seines Kindes ein arbeitsfreier Tag zu, in Frankreich sind es vierzehn Tage. Und Mütter erhalten 16 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub.
Die französische Sozialpsychologin Dominique Frischer ist überzeugt davon, dass die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit der Grund für den französischen Baby-Boom ist. Auf die höhere Anzahl von Migrantenkindern ist die Geburtenrate jedenfalls nicht zurückzuführen. Einwanderer in Frankreich passen sich nämlich in ihrer Geburtenrate relativ bald dem Landesdurchschnitt an.
Auch in der Bildung sind in Deutschland große Versäumnisse zu verzeichnen: Die hierzulande geleistete „Aufklärungsarbeit“ scheint eher einem überbevölkerten asiatischen Schwellenland zu entsprechen als einer ergrauenden Industrienation. In der Schule wird umfassend über Verhütungsmethoden informiert – was selbstverständlich seine Berechtigung hat –, aber niemand klärt junge Menschen hinreichend darüber auf, wie schnell die Fruchtbarkeit nach dem 30, vor allem nach dem 35. Lebensjahr, sinkt. Martin Spiewak schreibt in der ZEIT: „Gewachsen ist die Zahl der Paare, die sich spät fürs Kinderkriegen entscheiden und dann überrascht feststellen, dass es leichter ist, eine Schwangerschaft zu vermeiden – was bisher ihre größte Sorge war –, als schwanger zu werden.“ Der Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig, Elmar Brähler, plädiert daher entschieden dafür „in der Schule nicht nur über Verhütung zu reden, sondern auch davon, dass Fruchtbarkeit mit dem Alter abnimmt.“
Es gibt also familien- und bildungspolitisch viel zu tun. Zuviel, um ins Metaphysische abzugleiten.