Proteste an renommierten US-College (SZ, Juli 2013)

Mit den Rufen „Dartmouth has a problem!“ protestierten unlängst einige Studenten am altehrwürdigen Dartmouth College (1769 gegründet) in New Hampshire, Neuengland, gegen die hohe Zahl an bekannt gewordenen Vergewaltigungen sowie gegen Diskriminierungen von Homosexuellen. Nicht nur am Dartmouth-College, auch an anderen US-Elite-Bildungseinrichtungen wie Harvard und Cambridge ist es in den letzten Wochen zu Protesten gekommen. Immer wieder geht es um die hohe Zahl an sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen an den oft abgeschiedenen, internatsartigen Colleges und Universitäten. Am Dartmouth College kam es im Jahr 2011 zu 25 bekannt gewordenen Vergewaltigungsfällen, bei einer Zahl von nur 6000 Studenten. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. Andere Colleges weisen ähnlich hohe Zahlen auf. Die Proteste, die sogar schon ein Quäker-College erfasst haben, kommen nicht von irgendwoher, sondern spiegeln die politische Stimmung im Land: Derzeit finden viele hitzige Debatten, die das Verhältnis von Staat und Körper thematisieren, statt. Vor allem junge Amerikaner demonstrieren für die Homoehe (85 Prozent der 18-29-jährigen Amerikaner spricht sich einer Umfrage zufolge für sie aus), seit 2004 haben zehn Bundesstaaten sowie drei Stammesgebiete von Native Americans die Homo-Ehe erlaubt. Gleichzeitig finden intensive Debatten über die hermetischen Strukturen des Militärs, die sexuelle Übergriffe begünstigen, statt. Zudem jährte sich die urliberale Entscheidung des Supreme Court vom 1973 zum berühmten „Roe versus Wade“-Fall zum 40. Mal: nach diesem Urteil wurden damals Schwangerschaftsabbrüche in den USA als Teil der Privatsphäre von Frauen angesehen und erlaubt. Und auch jetzt gab es Proteste auf beiden Seiten. Entsprechend sensibilisiert sind die Studenten. Warum finden in Bildungseinrichtungen so viele Vergewaltigungen statt? In manchen Gesprächsrunden am Dartmouth College wird über den ausbeuterischen Charakter des Kapitalismus per se diskutiert. Der afroamerikanische Star-Philosoph Cornel West reiste im April nach New Hampshire und wetterte vor fast tausend jubelnden Studenten mit Verve gegen Kapitalismus, Militarismus und Imperialismus – autoritäre Strukturen, die „in den USA bis in die intimen Beziehungen der Menschen vorgedrungen seien“.

 

In anderen Diskussionen werden eher auf pragmatischer Ebene die Ursachen gesucht: Die meisten Vergewaltigungen finden auf oder nach Partys der Studentenverbindungen, der Fraternities, statt. Die „frats“ gibt es zwar an vielen Universitäten. Aber an einem College wie Dartmouth, in der tiefsten Provinz zwischen Boston und Montréal gelegen, haben sie ein besonderes Monopol. Wer hier noch etwas Anderes erleben möchte als bei einem Glas Saft im örtlichen Pub fiddelnden Country-Musikern zuzuhören, muss auf die Partys der Burschenschaften gehen. Sie bilden den Mittelpunkt des sozialen Lebens. Ein Umstand macht diese Treffen besonders attraktiv. Während der Konsum von Alkohol in den USA erst ab einem Alter von 21 Jahren erlaubt ist, fließt auf den privaten Fraternity-Partys Bier, Schnaps und Wein in rauen Mengen. Die Mitgliedsbeiträge wurden schon ironisch als flat rates bezeichnet. Viele der Vergewaltigungsopfer, ob weiblich oder männlich, trauen sich nicht, die Täter anzuzeigen, da sie befürchten, in der sozialen Enge des Colleges gemobbt zu werden oder selber wegen Alkoholgenuss Ärger mit der Polizei zu bekommen. Daher werden fast alle Fälle nur der „Safety and Security“, einer Art College-Wachtruppe, übermittelt. Die Täter haben nicht viel zu befürchten, schlimmstenfalls droht ein Verweis vom College.

Nicht nur Vergewaltigungen sind ein Problem, auch die zum Teil sehr brutalen Rituale zur Einweihung der Novizen. Da müssen „vomlets“ (Omelette aus Erbrochenem) gegessen werden, Studentinnen belästigt oder nachts durch den Connecticut River geschwommen werden. Bei einem Versuch dieser Art ist ein Student ertrunken. Schon mehrfach hat die gesamte Professorenschaft des Dartmouth College dafür gestimmt, alle Studentenverbindungen am College zu verbieten. Doch sie konnten sich nicht gegenüber den Alumni, den Ehemaligen, durchsetzen, die in hohem Maße das College unterstützen. Da viele der Ehemaligen wohlhabend sind, spendet einer eine neue Turnhalle, ein anderer ein neues Labor und so weiter. Auch kann das College mithilfe großzügiger Spenden Stipendien an Studenten aus Familien mit geringem Einkommen, die sich die jährlichen Gebühren von 60.000 Dollar nicht leisten können, vergeben. Die Zahlungsbereitschaft der Alumni ist zwar bewundernswert, aber sie bringt die Lehre auch in Abhängigkeiten.

Doch nicht nur die Alumni sind dagegen, die Fraternities aufzulösen. Auch viele junge Studenten wollen nichts davon wissen. Denn die Verbindungen garantieren Zutritt zu einem höchst nutzbringenden beruflichen Netzwerke bis ans Lebensende. Es gibt Verbindungen, deren Mitgliedsbeitrag sogar eine Arbeitslosenversicherung beinhaltet. Dafür nimmt man Schikanen und Angst in Kauf. Die Loyalität zur eigenen „frat“ ist für viele prägend, denn hier wird eine Corporate Identity eingeübt, die im späteren Berufsleben mit über den persönlichen Erfolg entscheidet. Und sie hilft dabei, sich abzugrenzen.

Bruce Duncan, seit über 40 Jahren Germanistikprofessor am Dartmouth College, weist daraufhin, dass es sehr unterschiedliche Studentenverbindungen gibt, auch Sororities (Schwesternschaften) und gemischtgeschlechtliche Verbindungen. Aber an den Sororities darf kein Alkohol ausgeschenkt werden, sie sind daher manchmal diskreter Mitveranstalter von Fraternity-Partys. Annabel Martín, Spanischprofessorin und Leiterin des Studiengangs „Women’s and Gender-Studies“, spricht von einem „System wie aus den 50er Jahren“, das Männern Alkoholausschank erlaubt und Frauen nicht. Die „frats“ würden ein rückständiges Männer- und Frauenbild propagieren, das letztendlich Gewaltausübung begünstigen würde. Mehr als die Hälfte aller Studenten am Dartmouth College sei Mitglied einer Studentenverbindung.

Die Proteste führten zu heftigen Gegenreaktionen. Die Demonstranten erhielten später von einigen Kommilitonen Mails mit Morddrohungen („Wish I had a shotgun. Would have blown those hippies away“), ein Student drohte einer Demonstrantin an, sie zu vergewaltigen. Die College-Leitung sah sich genötigt, alle Lehrveranstaltungen für einen Tag abzusagen, um mit den Studenten über die Vorfälle zu sprechen. So etwas hat es seit 30 Jahren nicht mehr gegeben.

Ob das etwas gebracht hat? Bruce Duncan glaubt, dass die Studentenverbindungen eh seit Langem an Macht verlieren und zunehmend eher eine pubertäre als eine politische Angelegenheit sind. Annabel Martín ist ebenfalls optimistisch. Sie glaubt, dass sich in ganz Amerika derzeit „etwas bewegt“. Auch im Mikrokosmos des Dartmouth College hat es kurz nach den Protesten eine Überraschung gegeben: Eine Studentin wurde in ihrem Wohntrakt vergewaltigt und hat sich getraut, den Täter anzuzeigen.

 

© Tanja Dückers

 

 

 

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