Opa, du warst ja doch dabei – zu Harald Welzer

Jungle World, 7. Dezember 2005

Die spektakulären Kriegsverbrecherprozesse der Nachkriegszeit – die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, der Eichmann-Prozess in Jerusalem und der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main – haben die Sichtweise nahe gelegt, NS-Verbrecher als Einzeltäter zu betrachten. Denn der Rechtsstaat kennt keine Kollektivschuld, sondern nur die Verantwortung von Individuen. Zur Singularisierung kam die Dämonisierung („Hitlerismus“), beides diente den normalen Bürgern als Entlastung.

Erst Raul Hilbergs Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ analysierte die Judenvernichtung als komplexen, bürokratisierten und administrativen Vorgang, an dem eine unübersehbare Vielzahl an Tätern beteiligt war, die ihren Beitrag zum größten Massenmord der Geschichte vom Schreibtisch aus leisteten. Doch „Die Vernichtung der europäischen Juden“, 1961 in Chicago veröffentlicht, fand bis 1982 keinen Übersetzer in Deutschland. Deswegen konnte das Werk, das den zentralen Tätertypus neu definierte, hierzulande erst in den achtziger Jahren von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

Es dauerte noch einmal zehn Jahre – viele Täter waren mittlerweile ohne juristisches Nachspiel verstorben –, bis das alte und bequeme Bild vom allein schuldigen hohen NS-Funktionär endgültig verabschiedet werden konnte. Die Wehrmachtsausstellung, von 1995 bis 1999 in 33 deutschen Städten vertreten, räumte mit dem Mythos der „sauberen Wehrmacht“ auf und machte die reibungslose Zusammenarbeit von Militär und Einsatzkommandos deutlich. Fast gleichzeitig erschien Daniel Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“, Ende der neunziger Jahre dann auch „Das Dritte Reich und die Juden“ von Saul Friedländer sowie „Ganz normale Männer – Das Reserve-Bataillon 101 und die ›Endlösung‹ in Polen“ von Christopher R. Browning.

Auf der Studie von Browning baut der Essener ­Sozialpsychologe Harald Welzer mit seinem neuen Buch „Täter – wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ auf. Schon Browning hatte die Frage, ob es sich bei den Mitgliedern des Reserve-Bataillons 101 um besonders gewaltbereite Männer gehandelt habe, auf der Grundlage von soziodemografischen Studien mit „Nein“ beantwortet. Das Bataillon, das sich aus „normalen Familienvätern“ rekrutierte, war für den Tod von über 80 000 Menschen im polnischen Distrikt Lublin verantwortlich. Obwohl es ihnen ausdrücklich freigestellt worden war, an den Erschießungen teilzunehmen, verzichteten von 500 Männern nur wenige auf diese Form der „Arbeitsausübung“.

Auch Welzer bestreitet, dass die Persönlichkeits profile von NS-Tätern irgendetwas Auffälliges aufweisen. Er stützt sich auf psychologische Tests, die mit Kriegsverbrechern durchgeführt und nach ihrer Auswertung nicht verbreitet wurden, weil die aus ihnen gewonnene Schlussfolgerung zu deprimierend war. Die erstellten Charakterprofile unterschieden sich kaum von solchen der Normalbevölkerung. Einzig Rudolf Hess wies psychopathologische Züge auf.

Über einige bekannte sozialwissenschaftliche Experimente zum Thema „Bereitschaft zum Gehorsam“ kommt Welzer zu seiner Grundannahme: Es bedarf keines großen Aufwandes, um jemanden zum Massenmörder zu machen. Dabei grenzt er sich ab von allgemein-anthropologischen Nullaussagen („Gewaltbereitschaft liegt in der Natur des Menschen“), die nur archaische Erbschaften postulieren. „Menschen gibt es nur im Plural“, behauptet dagegen der Autor, beschreibt die kollektiven normativen Veränderungen in der Orientierung der Deutschen nach 1933 und spricht von einer „nationalsozialistischen Moral“. Überzeugend weist er nach, wie viele Entscheidungsträger tatsächlich vom Sinn und der Relevanz ihres Tuns überzeugt waren, wobei jeder gemeint ist, der direkt (mit dem Gewehr) oder indirekt (indem er ein abgesperrtes Arreal errichtete oder bewachte) an Erschießungen mitwirkte.

Welzer schreibt: „All diese Facetten einer Beschreibung von Massenmorden, Gewaltdynamiken und Tötungsbereitschaften gehen von einer zentralen Kategorie aus, nach denen Menschen ihr Leben führen und mit denen sie ihr Handeln begründen: Sinn.“ Die bei späteren Vernehmungen oft geäußerte Angst, bei Befehlsverweigerung selbst ins KZ zu kommen, sei unbegründet gewesen, denn dieser Fall sei nachweislich nicht ein einziges Mal eingetreten.

Diese Kernaussage macht Welzers Buch wichtig, denn sie betont, dass die nationalsozialistische Moral die Ausgrenzung von Juden als „Bürgerpflicht“ nahe gelegt habe. Der Autor spricht hier von einer „Binnenrationalität“ oder einer „partikularen Rationalität“, die den normalen Tätern genauso eigen war wie den höheren Schergen. Das Rationale ist in dieser Sicht „im höchsten Maße unmenschlich“ und von außen gesehen komplett irrational. An seiner Wirkungsmacht ändert das aber nichts. Welzer zitiert den britischen Sozialwissenschaftler William Thomas mit einer denkwürdigen Sentenz: „Wenn Menschen Situa tionen als real interpretieren, dann sind diese in ihren Folgen real.“ Wenn die Binnenrationalität der NS-Gesellschaft erst die Degradierung und später die Eliminierung von Juden fordert, dann erscheint es jedem kleinen Entscheidungsträger probat, dem Ganzen seinen Part beizusteuern. Der Verwalter der Kleingärtnerkolonie verweist die Juden vom Gelände, der Sportfunktionär schließt sie vom Vereinsleben aus.

Welzer macht deutlich, dass die Bereitschaft zu Degradierungen die Massenvernichtung schon beinhaltete, sie war angelegt im Kollektivgefühl, es gäbe eine „Judenfrage“, die nach einer „Lösung“ dränge. „Wichtig ist zu verstehen, dass die Täter und Täterinnen des Vernichtungskriegs eine in weitesten Teilen der Bevölkerung verbreitete Annahme teilten: dass die Juden ein Problem darstellen, das einer Lösung bedurfte.“ Alles Weitere ist nur eine Frage von Zeit, Raum und Mitteln.

Somit widersetzt sich Welzer auch den so genannten Verrohungstheorien, die die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs für die Durchführung von Massenerschießungen verantwortlich machen. Sein Widerspruch ist richtig, denn die Massenerschießungen fanden meist hinter der Front statt und wurden oft von Männern durchgeführt, die selbst noch gar nicht an der Front waren.

Mit dem Begriff der „partikularen Rationalität“ lässt sich auch Himmlers „Posener Rede“ verstehen, in der er davon sprach, dass „wir bei allem anständig geblieben sind“. Die gleichen Schützen, die jüdische Kinder hinrichteten, konnten sich enorm darüber echauffieren, dass jemand nach einer Exekution einen „Saustall“ hinterlassen hatte.

Sobald das Morden als rational begründet erschien, machten sich die Akteure an die Tötungsarbeit. In den Anweisungen von Einsatzgruppenleitern geht es um Fragen der Effizienz und Praktikabilität. Viele überlieferte Berichte beschäftigen sich ausschließlich damit, wie Genickschüsse am besten angesetzt, welche Waffen verwendet und wie die Leichen Platz sparend aufeinander geschichtet werden sollen. Gelegentlich werden psychische „Belastungen“ diagnostiziert – selbstredend beim Schützen, aber ein anständiges Mittagessen (nur Blutwurst empfand ein Schütze einmal als „geschmacklos“) zwischen den „Schichten“ sowie Schlaf und Erholung werden es schon richten.

Die Legende, man habe nichts gewusst, kontert Welzer mit Zitaten, darunter dem von Jürgen Mat thäus, der in „Unternehmen Barbarossa“ schreibt: „In der Nähe von Städten entstand dabei trotz gegenteiliger Befehle ein Phänomen, das man als ›Exekutionstourismus‹ bezeichnen konnte. Deutsche jedweder Couleur besuchten während oder außerhalb des Dienstes die Erschießungsstätten, um zuzusehen oder zu fotografieren.“ Außerdem seien Bitten, „einmal mitschießen zu dürfen“, an die Schützen gerichtet worden. Ein Major der Wehrmacht beschreibt, dass bei einer Erschießung „aus allen Richtungen Soldaten und Zivilisten auf einen Bahndamm“ zuliefen, hinter dem getötet wurde. Er resümiert, „er habe in seinem Leben schon einige unerfreuliche Dinge erlebt, ein solches Massengemetzel aber, noch dazu in aller Öffentlichkeit, wie auf einer Freilichtbühne, übersteige alles Geschehene“.

Es scheint, als gebe es kein Argument, das Welzer nicht widerlegen möchte, denn es folgt die Frage, warum die Nazi-Befehle so gern befolgt wurden. Die Antwort lautet: Weil sie überwiegend „uneindeutig“ und unspezifisch waren. Wer nun genau ein „Partisan“, „Funktionär“, „Kommissar“, „Plünderer“ etc. war, konnten die Männer vor Ort entscheiden. Und die, konstatiert Welzer, entschieden sich für eine weite Auslegung. Das Instrument der „vagen Befehle“ sowie die im NS-Staat miteinander konkurrierenden Einrichtungen schufen eine Atmosphäre, bei der jeder die Möglichkeit hatte, sich besonders hervorzutun. Dabei macht der Sozialpsychologe deutlich, dass er im Streit zwischen den Strukturalisten (die alles aus einer Eigendynamik erklären) und den Intentionalisten (Gab es eine ursprüngliche Absicht Hitlers zur „Endlösung“?) auf der Seite der Strukturalisten steht.

Am Ende will der ansonsten pessimistische Welzer wohl noch etwas Licht ins Dunkel bringen und verbreitet plötzlich Hoffnung: Jenseits des Bedürfnisses nach „kollektivem Aufgehobensein und nach Verantwortungslosigkeit“ gelte es, die Autonomie zu fördern. Wie ein Ratgeberheftchen klingt das Buch plötzlich aus: „Die Fähigkeit zur Autonomie setzt die Erfahrung von Bindung und Glück voraus. Leider verfügen wir bislang über kein gesellschaftliches Konzept, Menschen jenes lebenspraktische Glück erfahren zu lassen, das sie davor schützt, zu Vollstreckern des Unglücks der anderen zu werden.“

Warum nur dieses formelhafte Ende? Welzer kann und will als Sozialpsychologe nicht über die Arbeiten der Historiker und Politologen Hilberg, Goldhagen, Friedländer und Browning hinauskommen, trägt aber trotzdem einiges zum Wissen über deutsche Täter im Nationalsozialismus bei.

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