Obergrenzen? Nein danke (Kommentar, Radio Bremen, Februar 2016)

(Anmoderation: Immer öfter stellt sich angesichts der Uneinigkeit auf europäischer Ebene, wie mit der Flüchtlingssituation umzugehen sei, die Frage: Wissen wir eigentlich, was wir aufs Spiel setzen, wenn ein gemeinsames Europa scheitert?)

Den meisten nicht mehr ganz jungen Menschen wird die Erleichterung über die Überwindung der bipolaren Weltordnung nach dem Mauerfall und schließlich, nach der EU-Osterweiterung noch sehr präsent sein. Wir erinnern uns an endlose Grenzkontrollen, besonders, wenn man so wie ich, aus Berlin-West kommt und gern mal vier Stunden auf einen Extraparkplatz gebeten und bis auf die letzte Radkappe gefilzt wurde. Weiter als bis zur nächsten Grenze kam man mit seiner Landeswährung auch nicht.

Wollen wir solch ein Europa wieder?

Die Aufhebung der alten physischen, bürokratischen und zollrelevanten Grenzen hat nicht nur Urlaub, Einkauf und den innereuropäischen Warenfluss vereinfacht – am Rande sei gesagt, dass das deutsche Exportwunder zu über 60 % auf Exporten innerhalb der EU beruht. Eine Errichtung neuer Grenzen dürfte Deutschland besonders empfindlich treffen. Eine Vielzahl von Begegnungen wäre zu Zeiten des Kalten Kriegs nicht möglich gewesen. Klassenfahrten von Trier nach Krakau, Treffen von ehemaligen Soldaten einst verfeindeter Länder in Deutschland und Polen, Schriftstellertagungen in Berlin, auf denen sich Autoren aus ganz Europa über ihre Visionen eines transnationalen Europas austauschen – es ließen sich noch viele Beispiele anführen, die belegen, dass Europa für seine Bürger mehr ist als nur eine Wirtschaftsunion. Die kollektiven Traumata des Ersten und des Zweiten Weltkriegs konnten erst durch eine Vielzahl an europäischen Initiativen gemeinsam gemildert werden. So etwas wie Versöhnung zwischen Tätern und Opfern war oft erst durch einen grenzüberschreitenden Austausch möglich. Auch neuen politischen Herausforderungen wird eher gemeinsam als in renationalistischem Einzelgängertum begegnet werden können.

Wenn Obergrenzen für Flüchtlinge gefordert werden, müssen zu deren Durchsetzung stabile, auch grüne Grenzen, etabliert werden. Der Schengenraum hat sich damit erledigt. Der freie Personen- und Warenverkehr wird damit endgültig aufgegeben werden müssen. Ist dieser Preis, gerade für die einst hinter dem eisernen Vorhang verschwundenen mittel- und osteuropäischen Länder nicht etwas hoch, wenn es lediglich darum geht, ein paar Tausend notleitende Menschen mehr als bisher aufzunehmen? Stehen diese Größen in Relation zueinander? Menschen können integriert werden – diesen Beweis liefern die meisten Länder der Welt jeden Tag, darunter auch viele europäische Länder – , aber „Europa“ ist ein Jahrhundert- , wenn nicht ein Jahrtausendprojekt. Es darf nicht temporär bestehenden Partikularinteressen geopfert werden. Wissen wir eigentlich, was wir aufs Spiel setzen, wenn ein gemeinsames Europa scheitert?

 

© Tanja Dückers, Berlin, im Februar 2016

 

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