Mit Abstand näher gekommen. Israelische und deutsche Autoren erzählen über das andere Land (Berliner Morgenpost, November 2015)

veröffentlicht in Berliner Morgenpost, November 2015

Unübersichtliche Gegenwart: Israelische und deutsche Autoren erzählen über das andere Land

Eine der interessantesten Neuerscheinungen in diesem Jahr ist die Anthologie „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen. Israelische und deutsche Autoren schreiben über das andere Land“. Das Erscheinungsdatum – 2015 – ist nicht zufällig gewählt: Vor 50 Jahren wurden diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel aufgenommen. Der Herausgeber der bilateralen, literarischen Begegnung sind der Berliner Schriftsteller Norbert Kron und sein israelischer Kollege Amichai Shalev. Kennengelernt haben sich die beiden beim Fußballspielen in ihren jeweiligen „Autoren-Nationalmannschaften“ in Berlin und Tel Aviv. Gemeinsam haben sie eine Reihe guter Autoren ausgewählt, darunter von israelischer Seite Kollegen wie Assaf Gavron, Yiftach Ashkenazy oder Sarah Blau und von deutscher Seite Albert Ostermaier, Rainer Merkel, Katharina Hacker und Jochen Schmidt.

Standen bei früheren Begegnungen zwischen deutschen und israelischen Schriftstellern und Künstlern die Shoa und die Frage nach den Ursachen des Holocausts oft im Vordergrund, so ist die Beschäftigung mit dem jeweils anderen Land, der anderen Kultur und Sprache, nun multiperspektivischer und polyphoner geworden. Israelis, die in Berlin leben und junge Deutsche, die regelmäßig nach Israel reisen, schaffen den Boden für mehr Gemeinsamkeiten. Wie der Titel deutlich macht, ist die dritte Generation der Israelis und der Deutschen jedoch weder „politikvergessen“, wie ihr in beiden Ländern gern unterstellt wird, noch uninformiert. Aber die Nachgeborenen erzählen mit dem qua Geburt erworbenen historischen Abstand naturgemäß weniger im O-Ton der direkt Betroffenen als – oft verfremdet und verspielt – von der unübersichtlich gewordenen Gegenwart, in der Freund-Feind-Definitionen schwieriger geworden sind. Sie stellen, wie Eva Menasse, Fragen nach der eigenen oft gebrochenen oder zumindest uneindeutigen Identität. Wo beginnt, wo hört jüdische Identität auf, wenn es nicht die Mutter, sondern andere Verwandte sind, die jüdischen Glaubens waren? In dichten, spannungsvollen Geschichten werden, en passant und mit plausibler Figurenzeichnung, Fragen nach kultureller Zugehörigkeit gestellt. Der Zivilisationsbruch des Holocaust, die planmäßige Auslöschung von Millionen von Menschen, wird in einigen Texten erwähnt, bildet nicht selten den unverrückbaren Hintergrund.

In den Geschichten finden sich, im Vergleich zur Literatur der älteren Generationen, seltener essayistische staatspolitisch-theoretische Überlegungen. Stattdessen werden meist persönliche, kreative, bisweilen utopistische Ansätze gesucht, sowohl zur Vergangenheit, die in vielen Texten aufscheint, als auch zur Gegenwart, die den Nahostkonflikt mitreflektiert.

Die Ansätze sind so verschieden wie die Schriftsteller: Sehr gelungen ist der Beitrag „One State Solution“ von Norbert Kron, in dem er ein groteskes Zukunftsszenario entworfen hat: Nachdem die EU „implodiert“ ist und es 2041 eine verheerende Weltwirtschaftskrise gegeben hat, wurde, was „die Welt in Staunen versetzte“, eine transmittelmeerische Einstaatenlösung per Volksabstimmung beschlossen: Eine israelisch-palästinensisch-deutsche Vereinigung. Hauptstädte sind Jerusalem und Berlin, Tel Aviv ist Geschäftskapitale und Ramallah Sitz des Föderationspräsidenten. Ein dritter Tempel wurde nun auch errichtet, allerdings nicht in Jerusalem, sondern in der Senke von Jericho, der tiefstgelegenen Stadt der Welt am Rande des Toten Meers. Jericho: die biblische Stadt, die Stadt des Neuen Testaments und die palästinensische Stadt der Gegenwart.

Die israelischen Beiträge sind alle beeindruckend. Von Amichai Shalev lernt man, welche Bedeutungsveränderung das Wort „Nazi“ bei den Israelis erfahren hat. So kann jemand, der strikt Regeln folgt oder ein Produkt, das absolut einwandfrei funktioniert und bei dem nur ein geringes Risiko besteht, dass es kaputt geht, als nazimäßig bezeichnet werden. Der Autor, beziehungsweise sein erzählendes Alter Ego, berichtet, bei der Arbeit wegen pedantischem Verhalten auch schon als „Nazi“ bezeichnet worden zu sein. Das Wort „Nazi“ hat für ihn „den Klang einer Faust von der Art, die nicht unbedingt Dreck hinterlässt, dich aber auf der Stelle umhaut“.

Auf seiner ersten Berlinreise stellt Amichai Shalev zwar fest, dass das Wort „Friedrichstraße“ für ihn noch wie ein SS-Befehl klingt, aber „Berlin ist wirklich farbig, sprudelnd, so viel Leben, ein Gefühl undefinierbarer Süße“. Er kommt zu dem Schluss, dass man „hier einfach man selbst sein kann, ohne dass es eine Rolle spielt, welchen Hintergrund du hast und was deiner Familie widerfahren ist“. Bei Galit Dohan Carlibach, die ebenfalls einen Erstbesuch der Hauptstadt beschreibt, wird aus Berlin – durch einfaches Vertauschen der Silben – „Linber“. Sie muss die Stadt, in welcher der Holocaust geplant worden ist, noch auf Distanz halten, Linber ist für sie das neue Berlin, dem sie sich langsam öffnen möchte. „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen“ ist zeitgleich in Israel erschienen.

Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen. Israelische und deutsche Autoren schreiben über das andere Land. Fischer, Frankfurt am Main, 2015, 320 Seiten, 18.99 Euro

© Tanja Dückers, November 2015

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