ZEIT Online, 2. September 2009
Das hört man oft: Menschenrechte seien eine naive Idee des Westens – oder Deckmäntelchen für imperialistische Tendenzen. Das ist falsch. Menschenrechte sind universell
Nicht erst seit dem Debakel im Irak, das sich nun in anderer Form in Afghanistan zu wiederholen scheint, glauben in Deutschland viele, dass es für die militärischen Engagements der westlichen Welt keinerlei Berechtigung gibt. Denn eine Einmischung in die Binnenverhältnisse eines anderen Landes, egal in welchem Zustand sich dieses befindet und von wem es regiert wird, sei in jedem Fall der Versuch, einer anderen Gesellschaft die eigenen Wertvorstellungen zu oktroyieren. Manche, wie der Autor und Philosoph Richard David Precht, meinen darin gar eine seit den Alten Griechen bestehende Überheblichkeit des Westens feststellen zu können.
Sicherlich ist die Frage sehr berechtigt, ob ausgerechnet militärische Interventionen das richtige Mittel sind, um diese durchzusetzen und ob militärische Mittel zur Durchsetzung von Menschenrechten nicht ein Widerspruch an sich sind.
Doch die grundlegende Frage besteht darin, ob die Werte Menschenrechte und Demokratie einen universellen Anspruch besitzen und sie in Einzelfällen die Berechtigung für ein bewaffnetes Eingreifen liefern können – unabhängig von der aktuellen Frage nach der Legitimität und dem Sinn des Afghanistan-Engagements.
Hier beginnt das große Missverständnis. „Der Kampf für die Menschenrechte ist die Blaue Blume der linken Romantik“, behauptet Precht, der selbst in einem linken Elternhaus aufgewachsen ist. Merkwürdig nur, wer demnach plötzlich zur Linken zählen soll – George W. Bush benutzte den Begriff „Menschenrechte“ ebenso wie Angela Merkel. Alles blaue Blümchen? Nach dieser Vorstellung handelt es sich bei den verantwortlichen westlichen Politikern lediglich um törichte Idealisten, die zu glauben scheinen, mit etwas gutem Willen allein ließe sich die Welt verändern.
Tatsächlich ist der Begriff der Menschenrechte jedoch kein idealistisches Konstrukt, dem naive westliche Politiker, Europäer wie Amerikaner, mit einem Hang zur Selbstüberschätzung verfallen sind. Denn der ökonomische Aufstieg der westlichen Demokratien wäre ohne die Aufklärung nicht zu denken – und Grundlage der Aufklärung war die Befreiung des Individuums von der Allmacht der Religion, der „Blutsbande“, also der ethnischen Zugehörigkeit, und der Übermacht des Staates.
Daraus resultierte das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft, bestimmte existenzielle und soziale Mindeststandards zu garantieren – wie etwa das Recht, nicht gefoltert zu werden, ein Dach über dem Kopf zu haben oder eine halbwegs solide Schulbildung in Anspruch nehmen zu können. Kurz: die Menschenrechte.
Den Kampf für die Menschenrechte haben in den westlichen Industrienationen Heerscharen von Bauern, Arbeitern, Frauen und andere Gruppen geführt – nicht ein paar zeitlos linke Hippies. Bestürzend ist zudem der Versuch, den Begriff der Menschenrechte selbst zu relativieren. Leider ist diese moralische Laissez-faire-Haltung par excellence populär geworden. Sie tut ja auch zunächst niemandem weh und klingt so tolerant.
Aber indem man die universellen Menschenrechte lediglich für eine Kulturerscheinung von regionaler Relevanz und Gültigkeit hält, mutieren sie – fälschlicherweise – zur reinen Ansichtssache: Demnach definieren die Taliban Menschenrechte eben einfach nur auf ihre Art – voller Idealismus steinigen sie mutmaßliche Ehebrecherinnen und brennen Mädchenschulen nieder. Schließlich ist für sie der Tod einem unmoralischen Lebenswandel vorzuziehen. Wer will hier schon den Zeigefinger heben? Precht sicherlich nicht. Denn in seiner Sichtweise gibt es nur unterschiedliche Lebensweisen und Mentalitäten.
Es ist, durch die blaue Blume gesagt, inhuman, Gewalttaten dieser Art lediglich mit dem Begriff der Kulturdifferenz wegzuerklären – als ob es sich hierbei um verschiedene Webtechniken, Gewürze oder Musikinstrumente handeln würde.
Der extreme Kulturrelativismus ist eine Haltung, die nicht nur Gleichgültigkeit mit dem Schicksal anderer Menschen spiegelt, sondern auch mit ihrer Argumentation anti-individualistisch, somit letztlich vormodern ist. Denn: Das Individuum, der Mensch an sich, der Einzelne, der, egal wo er lebt, bestimmte Formen der Körperverletzung und Missachtung nie, in keiner Kultur, als angenehm empfindet, wird von den Kulturrelativisten weniger wertgeschätzt als sein Umfeld, seine Tradition, die solcherart Menschenrechtsverletzungen statuiert hat.
Kulturrelativistisches Denken betont immer die Distanz zwischen den Kulturen – anstatt Nähe und Gemeinsamkeiten wahrzunehmen. Anstatt das Augenmerk auf das Verbindende zwischen Menschen verschiedener Kulturkreise zu lenken, werden Differenzen heraufbeschworen als ob es sich bei Menschen eines anderen Kulturkreises um Wesen von einem anderen Stern handeln würde.
Dabei ist der Wunsch nach Sicherung gewisser existenzieller und sozialer Mindeststandards ubiquitär verbreitet, und die Vorstellungen von Glück oder Frieden sind, wie zahlreiche Studien belegen, in vielen Ländern erstaunlich ähnlich. Gerade in Zeiten der gewachsenen Mobilität, des zunehmenden Luftverkehrs und des Reisens als Lieblingsfreizeitbeschäftigung der Deutschen wundert es, wenn einen das Schicksal von Menschen, die man in wenigen Flugstunden erreichen kann, nicht tangiert.
Die Globalisierung mag viel Schlechtes mit sich bringen, aber sie verkürzt auch Distanzen und erhöht Kommunikation und Austausch. Nicht ganz abgestumpften Gemütern wird sie zunehmend die Schicksale anderer Menschen näher bringen – und eine Isolationspolitik auf der abgeschotteten Wohlstandsinsel Europa erschweren. Wenn wir nicht in die Welt gehen und uns einmischen – was ein weit gefasster Begriff ist, der nur am äußersten Ende seines Handlungsspektrums militärische Mittel kennt -, kommt sie zu uns.