Literarische Schatzsuche im Schatten der Kolonnaden. Porträt Karin Graf (Goethe.de, September 2015)

veröffentlicht auf Goethe.de, September 2015

„Stadtgeschichten“-Kolumnistin Tanja Dückers im Gespräch mit der Literaturagentin Karin Graf am Walter-Benjamin-Platz, im Herzen der alten City West.

Der Weg zu einer der bekanntesten Literaturagenturen Deutschlands führt durch eines der schönsten Stadtviertel in Westteil der Stadt, den Kiez rund um den Savignyplatz in Charlottenburg. Viele Cafés, Galerien und originelle Läden flankieren die Straßen. Der berühmte deutsch-amerikanische Maler, Grafiker und Karikaturist George Grosz hat seine letzten Lebenstage im Haus Savignyplatz 5 verbracht, später wohnte Loriot im selben Haus, das Theater des Westens ist nicht weit. In der Mommsenstraße hat die Agentur Graf & Graf ihren Sitz. Aber Karin Graf möchte heute zum nahegelegenen Walter-Benjamin-Platz gehen. Wir laufen an „Berlins kleinstem Blumenladen“, einer floralen Oase auf wenigen Quadratmetern, und an verführerischen Eisdielen vorbei. Einen Moment später umgibt uns Stille: So einen Platz, nein, eine Piazza, erwartet der Spaziergänger nicht, wenn er von der Wielandstaße abbiegt. Der von Hans Kollhoff entworfene Walter-Benjamin-Platz imponiert mit majestätischer Strenge. Zur Linken und zur Rechten stehen lange Kolonnadenreihen, in der Mitte: Leere. Autos dürfen den Platz nicht überqueren. Ein Springbrunnen schließt den Platz zur viel befahrenen Leibnizstraße ab. Der Star-Architekt schreibt dazu: „Ein Brunnen (…) schirmt mit seinen Wassergeräuschen den Verkehrslärm ab.“ Zur Wielandstraße hin endet der Platz mit einer prachtvollen Kastanie. Man kann sich gut vorstellen, wie die viel beschäftigte Literaturagentin hier, im Schatten der Säulen, ein wenig Ruhe im hektischen Alltag findet. Über dem Platz hängt eine selbstvergessene Melancholie, die an Gemälde von Giorgio de Chirico erinnert.Es ist heute sehr heiß, Karin Graf stellt zwei Stühle von einem kleinen Café unter die Kastanie. Sie kommt sofort auf den Platz zu sprechen. „Ich finde, der Walter-Benjamin-Platz erinnert ein bisschen an Mailand, mit dem breiten Durchgang zwischen Wieland- und Leibnizstraße. Natürlich muss man hier gleich an den Flaneur aus Walter Benjamins ‚Das Passagen-Werk’ denken. Mir gefallen auch die Häuser mit den großen Fenstern, die bis zum Boden reichen. Sehr gut finde ich, dass viele dieser Wohnungen nach wie vor städtisch vermietet und preiswert sind. Sie sind nicht das, was man jetzt Luxuswohnungen nennt, obwohl es hier sehr luxuriös aussieht – sehr schöne Laternen! Und ganz toll ist, dass sich, unsichtbar für den Flaneur, auf der linken Hälfte der Gebäude, eine riesige städtische Kita befindet – auf dem Dach ist der Spielplatz. Natürlich abgesichert.“

Karin Graf erinnert sich nun, wie der Architekt, „wie das in Berlin so üblich ist, viel geschmäht wurde für das abweisende Graue des Platzes und so weiter. Aber“, fügt sie mit Nachdruck hinzu, „ich finde: Dieser Platz ist hervorragend gelungen.“

Als Karin Graf – aufgewachsen im Rheinland, in Kerpen bei Köln – im Jahr 1986 mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Joachim Sartorius, und den beiden kleinen Töchtern nach Berlin zog, war der heutige Walter-Benjamin-Platz ein Trümmergrundstück, eine Brache. Kreuz und quer parkten Autos dort, Müll lag herum. Jetzt fühlt sie sich wohl hier: „Im Sommer komme ich häufig hierhin. Es gibt einen hervorragenden Aperol Spritz im großen Glas“, schwärmt sie und fügt noch an: „Ist ja eher eine amerikanische Gewohnheit, diesen After-Work-Drink zu nehmen.“

Von amerikanischen Gebräuchen hat sie sich in einer wichtigen Lebensentscheidung inspirieren lassen: Als sie 1995 ihre Agentur gründete. Das war ein mutiger Schritt, sie war damit hierzulande eine Pionierin. Man kannte das Literatur-Agentenwesen bislang nur aus dem angelsächsischen Raum. Der war ihr vertraut, weil sie zunächst als Übersetzerin vieler englischsprachiger Schriftsteller wie William Carlos Williams, V.S. Naipaul, Rita Dove, Wallace Stevens, Rudyard Kipling, Willa Cather oder Virginia Woolf bekannt wurde.

Über ihre Gründe, eine Literatur-Agentur in Berlin zu gründen, sagt sie rückblickend: „Nach dem Fall der Mauer habe ich gemerkt, dass sich die Literaturlandschaft ändert: erstens, dass die Generation der Gründer von Verlagen starb und viele Verlage an Konzerne verkauft wurden, so dass der Bezug zum Verleger wegfiel. Da waren nicht mehr diese väterlichen Verleger-Gestalten, die sich der Autoren annahmen. Ich merkte, wie verunsichert viele Schriftsteller davon waren. Gleichzeitig gab es viele neue junge Stimmen, die erst nach dem Fall der Mauer erwachsen wurden und ein ganz anderes Deutschland kennenlernten, ein anderes Europa. Das waren die ersten, die nicht mehr den Pass zeigen mussten, wenn sie über die Grenzen reisten. Ich fand Berlin immer toll, aber jetzt wurde die Stadt doch erst wirklich zur Drehscheibe in Europa, zwischen Ost und West. Und diese beiden Aspekte – veränderte Verlagslandschaft, neue Autoren in einem anderen Deutschland, einem anderen Europa – haben bei mir zu diesem Gedanken geführt.“

Aber aller Anfang ist schwer: „Ich habe einfach in den ersten Jahren sehr, sehr hart gearbeitet“, seufzt die ansonsten recht tough wirkende Agentin. Mittlerweile gibt es im deutschsprachigen Raum an die 70 Literatur-Agenturen. Die Agentur Graf & Graf ist nach wie vor sehr erfolgreich, betreut um die 150 Autoren, darunter Namen wie Hanns-Josef Ortheil, Terezía Mora oder Kathrin Schmidt. Aber sie entdeckt auch immer wieder unbekannte Autoren wie Stefanie de Velasco oder Karen Köhler.

Vor acht Jahren hat Karin Graf noch mit Lavinia Frey die Agentur Graf & Frey gegründet, die sich auf die Organisation von Wortveranstaltungen konzentriert.

Wortveranstaltungen? Dazu erklärt Karin Graf schnörkellos: „Wir suchen Auftraggeber, die sagen, sie hätten bei ihrem Betriebsfest gern eine Lesung – anstatt Tingeltangel! Wir machen jetzt sogar schon Literaturprogramme beim Tag der Offenen Tür im Finanzministerium, im Wirtschaftsministerium, im Justizministerium, im Bundeskanzleramt … wir bitten allerdings Schauspieler zu lesen, weil Autoren nicht unbedingt die Nerven haben, bei diesem Publikumsgewusel aufzutreten.“

Wir kommen auf Walter Benjamin zu sprechen. Walter Benjamin ist hier, in Berlin-Charlottenburg, in einer jüdisch-assimilierten Familie, aufgewachsen. Viele der in Benjamins wunderbarem Erinnerungsbuch „Berliner Kindheit um 1900“ erwähnten Orte befinden sich in der Nähe. Als Jude und Intellektueller war Walter Benjamin den Nazis ein Dorn im Auge. Vor Hitler war er erst nach Frankreich und schließlich bis in den französisch-spanischen Grenzort Port Bou geflohen. Aus Furcht vor der Gestapo, die mit den Faschisten Francos zusammenarbeitete und seine Auslieferung verlangte, nahm er sich dort am 26. September 1940 das Leben. Der Gedenkort „Passagen. Hommage an Walter Benjamin“, geschaffen von dem renommierten israelischen Bildhauer Dani Karavan in Port Bou, erinnert an ihn. „Eigentlich ist Benjamin immer noch sehr präsent“, meint Karin Graf nun, deren Töchter die Walter-Benjamin-Grundschule besucht haben, „weil er innovativ geschrieben hat. Man kann ihm ja beim Verfertigen des Denkens zuschauen, so wie er schreibt. Das macht ihn für uns immer noch sehr zeitgenössisch.“ Als die Akademie der Künste kürzlich einen Walter-Benjamin-Abend veranstaltete, wurde sie von Interessenten überrannt, viele mussten abgewiesen werden.

Berlinbesucher sind oft von den vielen ungenutzten Flächen, den Brachen – meist durch Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg entstanden – fasziniert. Berlin wirkt im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten sehr heterogen, chaotisch, ungestaltet, bietet noch, im Wortsinn, viele Freiräume. Doch nach der Wiedervereinigung verschwanden die Brachen zunehmend. Nicht alle Neubebauungen erwiesen sich als sinnvolle Ergänzungen des Stadtraums. Der Walter-Benjamin-Platz ist eines der gelungensten Beispiele der letzten Jahre: Hier wurde eine einstige Brache mit Blick auf die Berliner Geschichte gestaltet, ohne auf Freiraum zu verzichten.Hoffentlich wird Karin Graf noch viele unentdeckte literarische Schätze im Schatten der Kolonnaden auf dem Walter-Benjamin-Platz zu heben wissen.

© Tanja Dückers, August 2015

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