Künstlerunternehmer

erschienen in: „Unternehmertum – Vom Nutzen und Nachteil einer riskanten Lebensform“, Hg. Ludger Heidbrink und Peter Seele, campus, Frankfurt am Main 2010

In der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten spielt sich eine Erfolgsgeschichte ab: Kaum jemand wagte noch vor kurzem zu glauben, dass ausgerechnet die so strukturschwache Hauptstadt derzeit mit guten Zahlen glänzen könnte. Während Deutschland in einer Rezession versinkt, hat das Wirtschaftwachstum in Berlin im vergangenen Jahr sogar das der Boomregionen in Süddeutschland überflügelt.[1]

Die erstaunliche Wende hin zu einer wirtschaftlich prosperierenden Region hat die Hauptstadt vor allem einer Branche zu verdanken, die bislang eher als Feigenblatt der chronisch ökonomieschwachen Metropole galt: Der Kreativwirtschaft.

In keiner anderen Region Deutschlands wächst sie so stark wie in Berlin. Demnach hat die Zahl der Unternehmen, die in den Bereichen Film, Musik, Mode, Werbung oder anderen kreativen Sparten tätig sind, innerhalb von sechs Jahren um ein Drittel auf 23.000 zugenommen.[2] Mittlerweile setzt diese Branche in Berlin jährlich mehr als 17,5 Milliarden Euro um – was mehr als ein Fünftel der gesamten Wirtschaftskraft der Stadt entspricht. Rund 160.500 Menschen arbeiten in dieser Branche. Das sind etwa zehn Prozent aller Erwerbstätigen in der Stadt.[3]

Die wirtschaftlich schon totgesagte Industriemetropole, die sich ökonomisch nie wirklich von der Abwanderung vieler Firmen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, von der durch ihre Mitte verlaufenden Teilung Deutschlands und den Umbrüchen der Wiedervereinigung erholt hat, erweist sich nun als Trendsetter in Hinblick auf einen erfolgreichen Wandel von einer fordistisch geprägten Industriestruktur zu einer hochmodernen Dienstleistungsgesellschaft. Verantwortlich dafür ist ein neuer Typus des Unternehmers, den man bis vor Kurzen allenfalls in der Unterhaltungsbranche ernst nahm: der Künstler oder Kreative.

Er ist zu einer Art Avantgarde aufgestiegen, der nicht nur der Wirtschaft neuen Schwung verleiht, sondern auch noch die vom Verfall bedrohte Stadt saniert. „Die Künstlerinnen und Künstler haben sich bottom up den Ruf erworben, städtische Dynamik zu erzeugen, doch auch in anderer Form wird mittels kreativer und kultureller Intervention in das städtische Gefüge eingegriffen.“[4]

Die Kreativen bevorzugen die lange Zeit vernachlässigten Innenstadtbezirke mit gründerzeitbaulichen Strukturen, die zuvor „Raum und Nischen für Experimente und alternative Lebensformen“ boten[5]. So lag die Wachstumsrate der Kreativwirtschaft im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit 30 Prozent etwa doppelt so hoch wie in ganz Berlin. 42 Prozent des Umsatzes in der Branche werden in diesem von seiner Altersstruktur her sehr jungen „Szene-Bezirk“ erwirtschaftet.[6]

Dass es sich dabei nicht nur um ein Berliner Phänomen handelt, zeigt der Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. Demnach erreicht die Kreativwirtschaft in Deutschland im Jahr 2004 einen Beitrag zur Bruttowertschöpfung von 58 Milliarden Euro – und liegt damit nur knapp hinter der stets im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden Automobilindustrie[7] – eine Branche, die unablässig als „Schlüsselindustrie“ Deutschlands bezeichnet wird.

Wie es scheint, bestätigen sich damit die Thesen des US-amerikanischen Soziologen Robert Florida, Professor an der University of Toronto.[8] Seiner Ansicht nach arbeiten in den hoch entwickelten Industrieregionen zwischen 20 und 25 Prozent aller Erwerbstätigen im Kreativsektor – wobei seine Definition weit gefasst ist und zum Beispiel Wissenschaftler inkludiert.

Zwischen Kultur und wirtschaftlichem Wachstum besteht nach Florida eine enge Verbindung, wobei vor allem kulturelle Umfeldbedingungen als Standortfaktor entscheidend sind. Die Attraktivität eines Firmenstandorts beruht nicht mehr nur auf günstigen Immobilienpreisen und niedrigen Gewerbesteuern, sondern auch auf der räumlichen Nähe zu Zentren kreativer Talente mit kulturell-subversivem Flair.

Milieu und Kulturangebot werden also für wirtschaftliches Wachstum entscheidend. „The key to understanding the new economic geography of creativity and it’s effects on economic outcomes lies in what I call the 3T’s of economic development: Technology, Talent and Tolerance,“[9] konstatiert Richard Florida.

Die neuen Kreativen entscheiden sich demnach für Orte, die besonders für ihre Toleranz gegenüber Minderheiten und alternativen Lebensstilen bekannt sind und bereits über ein umfangreiches kulturelles Angebot und Netzwerk verfügen.

Floridas Thesen sind in vieler Hinsicht umstritten. Kritik hat sein „Bohemian Index“ ausgelöst, der Auskunft über das kreative Potenzial eines Ortes oder eine Region gegen soll. Die unterstellte Korrelation zwischen der Anzahl von Künstlern, Vielfalt der kulturellen Infrastruktur sowie wirtschaftlichem Wachstum erschien Kritikern als zu willkürlich.

Dennoch lassen sich Floridas Überlegungen gut mit der prosperierenden Entwicklung vieler Städte wie beispielsweise Berlin, aber auch Kopenhagen, Amsterdam, Zürich oder Barcelona, in Einklang bringen, wo man gern auf die Standortfaktoren „Toleranz“ und „Talente“ verweist, um den steilen Anstieg der Kreativwirtschaft zu erklären. Viele Stadtplaner sehen in Floridas Buch mittlerweile eine Art Gebrauchsanleitung dafür, wie man ein attraktives Unternehmensumfeld schafft, das für langfristiges ökonomisches Wachstum steht. „Zwischen den Metropolen ist ein heftiger Wettbewerb um die neue kreative Klasse angebrochen, denn von ihr hängen Fortschritt und Innovation ab“ weiß der „Spiegel“, der dem Aufstieg der Kreativen Klasse und ihrer wachsenden ökonomischen Bedeutung  einen Titel widmete.[10]

Die Künstlern beziehungsweise der Bohème nachgesagte Toleranz gegenüber Minderheiten – sei es in ethnischer oder sexueller Hinsicht oder einfach hinsichtlich einem aus dem Rahmen fallendem Habitus oder Äußerem – ist in den letzten zehn Jahren zunehmend von Unternehmen akzeptiert und praktiziert worden.

Humanität und Menschenliebe dürfte vermutlich nicht das Movens für  zunehmende Toleranz gewesen sein. Vielmehr die Feststellung, dass in einer globalisierten Welt Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden schlicht wirtschaftliche Nachteile mit sich bringen.

Einflussreiche Teile der Wirtschaft setzen mittlerweile auf eine offene Gesellschaft, weil Innovation und Kreativität nicht mit einem von dumpfen Ressentiments geprägten Land zu vereinbaren sind – von dringend benötigten ausländischen Fachkräften ganz zu schweigen.

Doch dem Siegeszug der von Florida propagierten „Bohèmewerte“ Tolerenz, Individualität und Freiheit könnten die jüngsten finanzpolitischen Ereignisse wieder entgegenstehen: Während auf der einen Seite die Regierung ökonomische Globalisierungsprozesse  und Internationalität fördert, ist auf der anderen Seite die Flucht ins Nationale, die patriotische Introversion, die Suche nach Geborgenheit im Vertrauten, Regionalen eine weit verbreitete Antwort auf durchaus berechtigte und keineswegs paranoide Abstiegsängste der Mittelschicht.

Aber die gegenwärtige Durchdringung der Bereiche Kreativität und Unternehmertum, die zunehmende Diffusion dieser einst scharf geschiedenen Lebensformen, ist noch komplexer. Nicht nur, dass mit Kunst und Kultur im weiteren Sinne Geld zu machen ist und viele Firmen sich mit Ausstellungen und kostspieligen Kunstwerken oder –preisen schmücken. Nicht nur, dass in vielen Städten die Kreativen, beispielsweise Webdesigner, gegenüber klassischen Dienstleistern, die durch Automatisierungsprozesse zunehmend (beispielsweise U-Bahnfahrer) verdrängt wurden, numerisch an Terrain gewinnen.

Design statt Stahl – die „Kreative Ökonomie“

Die Arbeitsweise und der Habitus von Künstlern hat die Arbeitsweise von Unternehmern – auch von denjenigen, die nicht im Kreativsektor tätig sind –  nachhaltig beeinflusst und verändert.

Interessant an Floridas Thesen ist daher nicht nur, was die kreative Klasse faktisch leistet, sondern vor allem, wie sich ihre Arbeit von den Methoden der klassischen industriellen Produktion unterscheidet und wie sie diese gleichsam von innen heraus verwandelt und modernisiert hat.

Der Grund für die im Folgenden näher beschriebene Entwicklung hin von einer Assimilation und Absorption von einst exklusiv dem Künstler oder Bohemian zugeschriebenen Attributen hin in die Chefetage ist in einer Umorientierung der westlichen Industrienationen zu finden: Eine immer weniger auf primäre Ressourcen ausgerichtete Ökonomie wie die der Bundesrepublik Deutschland oder auch die der USA ist zunehmend von Innovationen, von neuen Konzepten – Ideen statt Substraten (Design und Patente statt Kohle und Stahl) – abhängig. Auch die Produktion ist in den letzten Jahrzehnten weitgehend ins Ausland verlagert worden, in anderen Ländern wird billiger produziert.

Und solcherart Innovationen setzen einen von seinen Eigenschaften her einen anderen Arbeitnehmer voraus als die Arbeitsanforderungen im Bergbau oder im Kohlekraftwerk; sie werden häufig von Querdenkern und Nonkonformisten vermittelt. Während früher Unauffälligkeit und Duckmäusertum für einen reibungslosen Ablauf vonnöten waren, sind nun zunehmend Eigenschaften wie Originalität und Eigensinn gefragt, um mit den neuen wirtschaftlichen Maßgaben Schritt zu halten.

Der Künstler konnte also deshalb zum Vorbild für die moderne Unternehmenskultur werden, weil sich die Art und Form der Arbeit in wenigen Jahrzehnten manifest verändert hat – und mit ihr das Anforderungsprofil an den modernen Unternehmer.

Dem Trendforscher und Protagonisten der „Kreativen Ökonomie“, Matthias Horx, zufolge ist „kreative Arbeit sehr viel flexibler und volatiler als die alte, klassische Lohnarbeit“.[11] Kreative halten sich an keine fixen organisatorischen Vorgaben, sondern schlagen sich mit Werkverträgen, Projekt-Deals, zur Not auch mit Schwarzarbeit oder Naturalientausch durch. Sie entwickeln eine „hyperflexible Alltagsökonomie, in der sich auch mit wenig Geld eine hohe Lebensqualität erzielen lässt.“[12] Statt in zentralisierten Produktionsstätten mit festen Abläufen sind sie in Netzwerken eingebunden, die nach Bedarf aktiviert werden. Weder Arbeitszeit, -platz oder Einkommen sind klar geregelt. Während sich die industrielle Arbeit vor allem durch die Wiederholung von Arbeitsabläufen definiert, lebt die kreative Wertschöpfung auf der Erstellung eines Unikats, einer eigenen originellen Leistung.

Jeder ist kreativ: New Labour und die Culture Industries

Bereits Jahre vor Floridas Veröffentlichung hatte sich die britische Regierung intensiv mit diesen neuen Arbeitsformen beschäftigt. Großbritannien hatte damals mit dramatischen strukturellen Problem zu kämpfen: Die traditionellen Industrien waren nicht erst seit dem legendären Streik der Bergarbeiter Ende der siebziger Jahren mit ihrem Niedergang konfrontiert. Daher stellte sich die Frage, was passiert, wenn die Schornsteine nicht mehr rauchen. Die Antwort kam überraschenderweise von einem Ministerium, das bis dahin kaum durch harte Wirtschaftsdaten aufgefallen war und eher am Rande wahrgenommen wurde. Doch der Kulturminister konnte hinreichend belegen, dass die Exporte der britischen Pop-Industrie mittlerweile höher ausfielen als die der traditionellen Industriebranchen.[13] Tatsächlich waren spätestens seit Ende der sechziger Jahre die Produkte britischer Pop-Gruppen, Modeschöpfer und Designer weltbekannt, während die industriellen Erzeugnisse aus Großbritannien immer weniger Abnehmer fanden.

Das unter dem britischen Premierminister Tony Blair neu gegründete Ministerium für Kultur, Medien und Sport (DMCS) legte Ende der neunziger Jahre einen ersten Begriff über die kreative Industrie im Vereinigten Königreich vor. Darin wurde sie als Branche definiert, die ihren Ursprung in individueller Kreativität hat und die dazu geeignet ist, durch die Schaffung und Verwertung geistigen Eigentums Wohlstand und Arbeit zu gewährleisten. Währenddessen setzte die Transformation der alten Industrien zu neuen Dienstleistungsbranchen ein. Statt Werften oder Stahlwerke sollten in der Musik-, Film-, Design- und Softwarebranche neue Stellen entstehen. Branchen also, in denen Waren nicht mehr standardisiert hergestellt werden konnten, sondern durch kreative und weitgehend autonome Produzenten.

Die britische Regierung erstellte 1998 das erste so genannte „Mapping“ der Kreativbranche, die anschließend international kopiert wurde. Gleichzeitig kursierten allerdings die unterschiedlichen Definitionen, was unter der Kultur- und Kreativwirtschaft genau zu verstehen sei. Erst Anfang 2009 erstellte das Bundesministerium für Wirtschaft zumindest für Deutschland eine einheitliche Definition: „Unter Kultur- und Kreativwirtschaft werden diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen erfasst, welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen.“[14]

Das britische Modell der „Creative Industries“ ging jedoch weit über eine bloße Modifikation traditioneller Wirtschaftspolitik hinaus. Diese neue Kreativwirtschaft symbolisierte auch die Abkehr vom alten, bürokratisch regulierten Industriekapitalismus und die Hinwendung zu modernen Managementphilosophien, die sich an Begriffen wie Flexibilität und Kreativität, Innovation und Individualität, Autonomie und persönlichem Engagement orientierte.

Eigenschaften, die zuvor besonders mit dem Typus des Künstlers und der Bohème verbunden waren – Personen also, deren kreatives Potenzial stets von subjektiven Befindlichkeiten abhängig ist, und die sich scheinbar in einem fundamentalen Widerspruch zur rational geleiteten Betriebswirtschaft bewegen. Damit entwickelten sich aber überraschende Gemeinsamkeiten zwischen zwei vermeintlich gegensätzlichen Welten. Der Künstler entpuppte sich nach und nach als Role-Model eines modernen flexiblen und kreativen Arbeitnehmers, der zugleich den alten Gegensatz zwischen abhängiger Beschäftigung und Unternehmertum überflüssig machte. Die gegensätzlichen Lebensentwürfe von Künstlern und Unternehmern schienen sich sogar zu ergänzen, wie der Soziologe Heinz Bude die Gestalt des „kulturellen Unternehmers“ in seinem Buch „Generation Berlin“ beschreibt. [15]

„Jeder ist kreativ“ – der Schlachtruf des neuen Kapitalismus, den die britische New Labour-Regierung Ende der neunziger Jahre verkündigte, bringt diese paradoxe Metamorphose der künstlerischen Freiheit in ein Modell der mobilen und autonomen Ich-AG auf den Punkt. Diese Losung erfasst nicht mehr nur Individuen, sondern das ganze Wirtschaftssystem.

Diese Entwicklung ist erstaunlich, da die heute so gefragte kreative Selbstentfaltung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts einer Minderheit vorbehalten blieb, die sich aufgrund ihres sozialen Status bereits in einer privilegierten Situation befand. Nur für einen kleinen Kreis akademisch Gebildeter und Künstler war es – mit Einschränkungen – legitim, unkonventionelles Verhalten an den Tag zu legen. Kreativität galt als Ausnahmezustand und wurde nur deswegen akzeptiert, weil die Kunst ihrem Wesen nach, a priori als genialisch, also: nicht normal galt. Die Kunst galt als Freiraum, der im strikten Widerspruch stand zum reglementierten Arbeitsleben, das für die überwältige Mehrheit bestimmend war. Der Künstler war daher ein Gegenentwurf zum „protestantischen Geist“ des Kapitalismus, der alle subjektiven Bedürfnisse den Vorgaben einer bürokratisch organisierten Produktion unterordnete. [16]

Von der Kulturindustrie zur Kreativwirtschaft

Für die Transformation des Künstlers zum Role-Model einer neuen Kultur der Selbstständigkeit spielten einige gravierende soziale und wirtschaftliche Veränderungen eine große Rolle, die wiederum eng mit der Krise des Fordismus verbunden waren.

Die fordistische Wirtschaftsweise  hatte nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Europa eine stetig wachsende Mittelschicht erzeugt. Der ökonomische Boom ermöglichte seit den fünfziger Jahren mehr und mehr Angehörigen der Industriearbeiterschaft den sozialen Aufstieg. Während die Elterngeneration noch vom moralischen und sozialen Codex der Vorkriegsära geprägt war, wuchsen ihre Kinder unter neuen Bedingungen auf, die in mehrfacher Hinsicht einen fundamentalen sozialen Wandel nach sich zogen: Der Typ des protestantischen Arbeiters, der stets seine Bedürfnisse aufschiebt, um den Lohn sofort wieder zu investieren, und sei es nur in der vollständigen Wiederherstellung seiner Arbeitskraft, erwies sich langfristig als kontraproduktiv für eine weitere Wachstumsphase. Für die fordistisch organisierte Wirtschaft, die sich in Europa später als in den USA durchsetzte, war der maßlose Konsument mindestens genauso wichtig wie der disziplinierte Produzent.

Das neue Wirtschaftsmodell zeigte allerdings eine ungeahnte Folge: Die vehemente Aufforderung zum Konsum entwertete nebenbei auch den gesellschaftlichen Stellenwert der Arbeit und erhöhte die Bedeutung der freien Zeit. Für die Älteren, die das traditionelle Arbeitsethos verinnerlicht hatten, blieb dieser Widerspruch lange Zeit nebensächlich. Für die jüngere Generation ergab sich daraus jedoch eine einschneidende Veränderung. Für sie spielte sich das eigentliche Leben jenseits der Arbeit ab. Die freie Zeit diente nicht mehr nur dazu, um sich wieder fit für den nächsten Arbeitstag zu machen, sondern wandelte sich in ein historisch neuartiges Phänomen: das der Freizeit.

Damit änderte sich auch der Charakter der Kultur. In der Klassengesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren die kulturellen Präferenzen eng an Produktionsprozesse gekoppelt. Der bürgerlichen „Hochkultur“ in der Oper stand der proletarische Gesangsverein gegenüber, der nicht nur der Erholung, sondern auch dem eigenen Rollenverständnis diente. In dem Maße, wie  sich die Bindung an den Produktionsprozess auflöste, war die jeweilige kulturelle Präferenz nun frei wählbar – und ermöglichte den ungeheuren  Aufschwung der populären Kultur.

Für die Sozialwissenschaftler der Frankfurter Schule, Theodor Adorno und Max Horkheimer, bildete dieser Prozess nur eine konsequente Ausdehnung der Methoden des fordistischen Kapitalismus. Der von ihnen geprägte Begriff der „Kulturindustrie“ manifestierte die Unvereinbarkeit der künstlerischen Freiheit und dem „Reich der Notwendigkeit“.[17] Die Medien- und Unterhaltungskonzerne erwiesen sich nach Meinung von Adorno und Horkheimer als institutionelle Strukturen, um die Menschen auch bis in den letzten Winkel ihrer Psyche der Kontrolle des Kapitals zu unterwerfen. Selbst intime Träume wurden unter die industriellen Formate der Filmindustrie subsumiert, sodass jede Nische und jeder Fluchtweg in das „Reich der Freiheit“[18] verschlossen blieb. Zwar tauchten immer wieder Dissens und Widerstand gegen die totale Vereinnahmung auf, doch „was widersteht, darf nur überleben, indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu wie die Bodenreform zum Kapitalismus.“[19]

In den Thesen zur Kulturindustrie erschien die standardisierte industrielle Massenproduktion an ihrem Endpunkt angekommen zu sein – in einem totalitären System, dass die Kultur zu einem bloßen Unterwerfungsinstrument für das „falsches Bewusstsein“ degradiert.

Tatsächlich gestaltete sich die Entwicklung jedoch dialektischer, als es sich Adorno und Horkheimer vorgestellt hatten. Denn anstatt die standardisierte Massenproduktion in alle Ewigkeit fortzuschreiben, entpuppte sich die Kulturkritik in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts als Hebel, um den fordistischen Kapitalismus zu transformieren.

Die beiden französischen Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Ève Chiapello haben in ihrer Studie[20] „Der neue Geist des Kapitalismus“ akribisch diese Metamorphose nachgezeichnet. Ausführlich schildern sie, wie sich in den siebziger Jahren in Frankreich das Phänomen der „Arbeitsallergie“ unter jungen Erwachsenen epidemisch ausbreitete. Hunderttausende zogen Gelegenheitsjobs und eine temporäre Beschäftigung einer regulären Arbeit vor – nicht, weil es an Stellen fehlte, sondern weil sie „alternative Lebensformen“ suchten, in denen sie die Bedingungen selber bestimmen konnten.

In den Fabriken hatte sich seit den Zeiten, in denen der US-Automobilhersteller Henry Ford sein legendäres Modell T am Fließband produzierte, wenig geändert. Der Fordismus brachte eine strikte Arbeitsaufteilung, die minutiös funktionieren musste, hervor. Für die standardisierten Fertigungsabläufe benötigte man weniger Fachwissen als eine disziplinierte Arbeiterschaft, die auch stumpfsinnigste Aufgaben ohne großes Murren akzeptierte. Ein elitäres Management plante und organisierte isoliert von der restlichen Belegschaft die Abläufe. Doch nun wollten sich die jungen Arbeiter nicht mehr in das starre Modell fügen. Sie zogen die Pausen in die Länge, arbeiteten langsamer oder fehlten einfach zu Schichtbeginn. Immer öfter standen die Räder still: Arbeitsausfälle aufgrund von Sabotage entwickelten sich zu einem massenhaften Phänomen.

Die Versuche des Managements, die Krise zu entschärfen, indem sie gewerkschaftliche Forderungen wie sichere Arbeitsplätze oder Lohnsteigerungen akzeptierte, schlugen fehl. Die Arbeitssoziologen interpretierten die Krise daher nicht mehr als Konflikt, der sich im Rahmen der üblichen gewerkschaftlichen  Forderungen regulieren ließ. Vielmehr sahen sie in den massenhaften Verweigerungen  eine Revolte gegen die allgemeinen Arbeitsbedingungen.

Zermürbt von den jahrelangen Arbeitskämpfen, massenhafter Abstinenz und sinkender Produktivität begannen die Unternehmen, den gesamten Produktionsprozess umzugestalten. Unter dem Schlagwort der „Humanisierung der Arbeit“ schaffte das Management nach und nach die alten Fließbänder ab und ersetzte sie durch neue Arbeitsformen. An ihre Stelle rückte die Gruppenarbeit: Arbeitsabläufe wurden zusammengefasst und kleinen Teams übertragen, die vorher festgelegte Produktionsziele selbstverantwortlich erreichen sollten. Wie sie die Arbeit organisierte, blieb der Gruppe überlassen – Hauptsache, die Ergebnisse waren zufriedenstellend. Der Weg zur Erfüllung einer Aufgabe oder eines Produktionszieles wurde nicht mehr im Detail vorgeschrieben, sondern den Beschäftigten überlassen. Sie sollten eigene Ideen entwickeln, wie eine Aufgabe im Team effizient bewältigen werden konnte. Die Übernahme von Verantwortung und Eigeninitiative wirkte dabei noch motivierender als materielle Leistungsanreize.[21]

Diese begrenzte Autonomie oder „Humanisierung der Arbeit“ bildete nur den Auftakt für eine lang anhaltende Reform der Produktionsabläufe, an deren Ende vom alten Fabriksystem nicht mehr viel übrig blieb. Begriffe wie  „Empowerment“ oder „Jobentrichment“, die seitdem in die Managementliteratur Einzug gehalten haben, sind ohne die „Künstlerkritik“ kaum denkbar.

Zudem schufen die Unternehmer ein Netz von neuen Dienstleistungs- und Subunternehmern. Bestimmte Aufgabenbereiche wurden an formal unabhängige Tochtergesellschaften übertragen; viele Unternehmer gingen dazu über, möglichst wenige Mitarbeiter anzustellen und den restlichen Bedarf durch „externe Kräfte“ zu decken. Die Zahl der Leiharbeiter, d. h. Beschäftigte, die nur zeitweise von privaten Arbeitsagenturen vermittelt werden, stieg ebenso rasant an: Allein in Frankreich verdreifachte sich seit Ende der sechziger bis Mitte der neunziger Jahre die Zahl der Zeitarbeitsfirmen. Hinzu kamen Arbeitsverhältnisse, die bislang eher nur im Dienstleistungsbereich sowie im Kultur- und Mediensektor üblich waren. Über so genannte Projekt- und Honorarverträge wurden Arbeitskräfte nur beschäftigt, wenn es die Auftragslage erforderte.

Von den neuen Mitarbeitern wurden nun Eigenschaften verlangt, die unmittelbar mit ihren geistigen und emotionalen Fähigkeiten korrespondierten: Beobachtungsgabe und Intelligenz, Kreativität sowie soziale und kommunikative Fähigkeiten. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps: Die Zeiten, als berufliches und privates als strikt getrennte Sphäre existierten, waren endgültig vorbei. Was sich in den Großunternehmen durchsetzte, wurde wenig später auf die gesamte Gesellschaft übertragen.

Ähnliche Entwicklungen wie in Frankreich vollzogen sich auch in anderen europäischen Staaten, wie etwa in Großbritannien und den Niederlanden. In Westdeutschland entstand zur gleichen Zeit die so genannte Alternativbewegung. In zahllosen Projekten sollten selbstbestimmte Formen des Arbeitens erprobt als Wege zu einer sozialistisch verstandenen Gesellschaft eröffnet werden. Das Spektrum, in dem es von Beginn an einen hohen Anteil von Studenten und Akademikern gab, reichte dabei von Dienstleistungsprojekten wie Teestuben, Kneipen, Naturkostläden, Theatergruppen, Kinos über Handwerkskollektive wie bis hin zu alternativen Mediengruppen und Technologieprojekten.

Diese Kleinunternehmer kompensierten fehlendes Kapital durch aufopferungsvollen Einsatz und gnadenlose Selbstausbeutung. „Wir leben anders! Wir arbeiten mehr als je zuvor, schaffen bis zu zwölf, 14 Stunden am Tag, und die Arbeit macht uns bei weitem nicht so kaputt wie die ,nur’ acht Stunden vorher im Betrieb. Das liegt ganz eindeutig daran, dass uns der Sinn unserer Arbeit klar ist, dass die weit weniger entfremdet ist“, schrieb 1976 die Gruppe „Arbeiterselbsthilfe“ aus Frankfurt. Die miserable Entlohnung und der Arbeitsdruck machten zwar schwer zu schaffen, doch zugleich zeichneten sich diese Betriebe durch innovatives Selbstmanagement aus. Die Abschaffung von Hierarchien und die Möglichkeit, Arbeitsabläufe selbst zu bestimmen und sie mit persönlichen Interessen zu verbinden, setzten ungeahnte Energien frei.[22]

„Lauft Genossen, die alte Welt ist hinter euch her“, lautete eine der hoffnungsvollen Parolen aus dieser Zeit. Dann stellte sich heraus, dass die Welt sich doch schneller dreht, als viele zu denken wagten. Und am Ende hatte sie die Arbeit wieder eingeholt – wenn auch in neuer Gestalt, die immer noch Spuren des Aufbruchs trug. Anstelle des regulierten Kollektivs und des repetitiven Produzenten trat das schöpferische Individuum in einer deregulierten Gesellschaft, und anstelle der Kulturindustrie die Kreativwirtschaft. „Während Kulturindustrie noch die abstrakt-kollektive Komponente der Kultur hervorzuheben schien, ereignete sich in den Creative Industries eine ständige Anrufung der Produktivität des Individuums.“[23]

Zur selben Zeit, als die westeuropäischen Jugendlichen von der Fabrikarbeit flüchteten oder alternative Betriebe gründeten, suchte in Kalifornien ein Hippie nach neuen Wegen. Mit einem Freund machte sich der gerade mal 19jährige Steve Jobs in löcherigen Jeans und T-Shirt auf den Weg nach Indien, um im Himalaja einen Guru namens Neem Kairolie Baba aufzusuchen. Jobs arbeitete vor seiner Reise bei Atari, einer der ersten Computerfirmen, bei der er auch nach seiner Rückkehr noch einige Zeit blieb. Von seinem Indien-Trip kam er zwar reichlich ernüchtert zurück – statt Erleuchtung fand er Durchfallerkrankungen und Krätze, vor allem aber die pragmatische Erkenntnis, dass „Thomas Edison womöglich mehr zur Verbesserung der Welt beigetragen hat als Karl Marx und Neem Kairolie Baba zusammen“.[24]

Dennoch blieb er der Hippiekultur treu, was ihm nicht schwer fiel, da seine Firma im Silicon Valley in unmittelbarer Nähe zu San Fransisco und Berkeley, den beiden Mekkas der Hippie-Bewegung, lag. Barfuss, kahl geschoren und in einer orange gefärbten  Toga gehüllt, marschierte Jobs damals zu seinem Arbeitsplatz. Sein vom Zen-Buddhismus inspirierter Glaube an spontane und intuitive Einsichten passte sehr gut zum chaotischen Führungsstil von Atari und verkörperte gleichzeitig das genaue Gegenmodell zum damals dominierenden autoritär-konservativen Führungsstil. Als Jobs später seine Firma „Apple“ gründete, wurden neue Mitarbeiter beim Einstellungsgespräch angeblich nach ihren LSD-Erfahrungen befragt – und eine ausführliche Antwort steigerte die Chancen auf eine Stelle erheblich. Die Mischung aus unkonventionellem Denken, absoluter Hingabe und Selbstverwirklichung passte zu den Businessplänen von Jobs. Lebe deinen Traum – und arbeite dafür wie verrückt. Heute gilt Apple als eines der innovativsten Unternehmen der Welt.

Erfolgsgeschichten wie die von Steve Jobs sind sicher eine Ausnahme. Sie zeigen jedoch, wie schnell sich das Bild von einer „innovativen Unternehmerpersönlichkeit“ innerhalb kurzer Zeit wandeln konnte. Jobs und Konsorten verkörpern einen anderen Unternehmertypus als die gesichtslosen Manager und Vorstandsmitglieder, die „grauen Eminenzen“, die für protestantischen Arbeitsethos und Langeweile Pate standen. Persönlichkeiten wie Jobs machten deutlich, dass in den neuen Wirtschaftsbranchen eine Eigenschaft zum Erfolg führte, die bis dahin geradezu als unseriös galt: Kreative  Selbstentfaltung.

Jobs kometenhafter Aufstieg – er wuchs als Waisenkind auf, verfügte weder über elterliche Unterstützung, gar ein Erbe, noch über andere Ressourcen und Privilegien – demonstrierte, dass es jeder schaffen kann, wenn er nur eine gute Idee und genügend Motivation besitzt. Statt an Fleiß und an das Credo vom „Sich Hocharbeiten“ glaubte man nun an Inspiration, Eigensinn und ans Quereinsteigen: Aus dem sprichwörtlichen Tellerwäscher war der MTV-Moderator, Start-Up-Unternehmer und Webdesigner geworden.

Wie die meisten wirtschaftlichen Transformationsprozesse entwickelte sich auch die New Economy zunächst vornehmlich aus den Nischen der Gesellschaft. Die Garagen-Unternehmer, die in Turnschuhen und T-Shirts die späteren Imperien der New Economy – wie etwa Apple – begründeten, erzielten ihre Erfolge gerade durch ihre Ablehnung der traditionellen fordistischen Arbeitsorganisation, der strikten Trennung zwischen privater und beruflicher Sphäre, zwischen Konsum und Arbeit. Ihr Aufstieg basierte auf der Entgrenzung der verschiedenen Lebensbereiche, auf der Fusion von individueller Lebenswelt und betriebswirtschaftlicher Effizienz: Die Kreativität des ehemaligen Undergrounds fungierte als eine zentrale Ressource für die so genannte dritte industrielle Revolution.

In Deutschland hat diese Entwicklung erst mit einiger Verzögerung eingesetzt. Das Modell des „rheinischen Kapitalismus“, geprägt durch Sozialpartnerschaft, staatliche Regulierung und standardisierte Produktion, war zwar maßgeschneidert für die fordistische Wirtschaftsstruktur der Nachkriegszeit. Doch seit Beginn der neunziger Jahre erwies diese sich gerade wegen des hohen Regulierungsgrades als unzulänglich. „Deutschlands größtes Problem ist, dass hier zu viele mit Krawatte und Anzug herumlaufen“, erklärte Michael Dell, Gründer des Dell-Hardware-Imperiums, noch 1998 auf der Cebit-Messe in Hannover.

Doch auch hier hat der Underground der siebziger und achtziger Jahre viele Entwicklungen der New Economy vorweggenommen. Flache Hierarchien, Beteiligung am Betriebsvermögen, flexible Gestaltung der Arbeitszeiten und Schuften im Team gehörten schließlich einmal zum Selbstverständnis fast jedes „Kollektivs“.

Die Branche der kultivierten Armut

Was sich zunächst als Rebellion gegen die regulierte Gesellschaft definierte, hat sich derweil als Mainstream etabliert. Mit der institutionellen Förderung der Kreativwirtschaft vollzieht die Politik nur noch, was sich auf individueller Ebene schon durchgesetzt hat. „Nach Feierabend saßen wir sowieso die ganze Zeit zusammen und haben nur über die Firma geredet. Da haben wir gedacht, dass wir auch gleich zusammen ziehen können“, zitiert die „Junge Karriere“ einen jungen Existenz-Gründer. Die Start-up-Unternehmer haben das Loft ein Stockwerk oberhalb ihrer Firmenetage eingerichtet. Das spart Zeit und Geld. Gewerkschaften sind hier ungefähr so angesagt wie Rabatt-Marken aus dem Tante Emma-Laden.

Solche Unternehmer sind längst nicht mehr die Ausnahme. In Berlin gehen beispielsweise nur noch zwei Drittel Prozent der Beschäftigten einer abhängigen Vollzeit-Tätigkeit nach. Das restliche Drittel versucht sich als Existenzgründer oder arbeitet in prekären, ungesicherten Dienstleistungsunternehmen. Tendenz weiter steigend. In der Kreativwirtschaft arbeitet sogar nur noch jeder zweite in einem regulierten Beschäftigungsverhältnis, während die andere Hälfte freiberuflich arbeitet.[25]

Auch in den Betrieben ist die Trennung zwischen der klassischen Angestelltenkultur und den neuen Selbständigen mehr und mehr obsolet. Schon längst hat sich der flexible Geist in die Amtstuben geschlichen, werden die Büros mobil und Grenzen zwischen Freiberufler und Angestellten überflüssig. Der Dienst nach Vorschrift ist vorbei, statt Festanstellung gibt es Zeitverträge und Zielvorgaben, Profitcenter und Benchmarketing selbst in den letzten Hinterzimmern.

Die flexiblen Modelle sind auch deshalb erfolgreich, da sie zumindest teilweise auf Bedürfnisse der Beschäftigten reagieren. Während das alte Fabrik-Kommando fast ausschließlich auf Disziplinierung und standardisierten Abläufen basierte, ermöglicht die flexible Produktion nicht nur einen neuen Rationalisierungsschub, sondern individualisiert auch die jeweiligen Betriebsabläufe. Der Flächentarifvertrag wird ebenso zu einem Relikt aus einem vergangenen Jahrhundert wie bezahlte Überstunden. Dafür gibt es Mitbestimmung pur: „Vermutlich sind die Stechuhren nur verschwunden, weil die modernen Angestellten sie verschluckt haben. Sie stecken in den Bäuchen, ganz tief drinnen und von dort unten tönt immer wieder die gleiche Frage: Hast du wirklich schon genug getan?“ heißt es in einer Reportage in der Zeitschrift „Neon“ über den Alltag der neuen Kreativen.[26]

Längst hat sich gezeigt, dass die Inkorporation betriebswirtschaftlichen Denkens in die eigene Lebensführung wesentlich effizientere Resultate zeigt als eine Tätigkeit nach Kommando. Wer selbständig seine Kreativität vermarktet, identifiziert sich vollständig mit den betriebswirtschaftlichen Zielen der eigenen Ich-AG. Ein Scheitern wird daher nicht mehr als Folge schlechter Marktbedingungen angesehen, sondern als Persönlichkeitsstörung. „Die neue Arbeit saugt alle Energien, emotionale und intellektuelle Ressourcen und demnach die ganze Lebenszeit auf, weshalb sie sich als ein äußerst effizientes System der Abschöpfung des Mehrwerts erweist.“[27]

So harmonisch wie es die Apologeten der Kreativwirtschaft propagieren, funktioniert die neue Arbeitswelt also nicht. Es entstehen neue Widersprüche, deren Ausmaße bereits abzusehen sind.

Denn nur, wer über die entsprechende Kompetenz verfügt, erhält die Möglichkeit, kreativ und finanziell erfolgreich zu sein – und dazu noch über die angenehmeren Arbeitsbedingungen zu verfügen. Diese Schicht tritt in einen verschärften Verdrängungswettbewerb mit all denjenigen, die nicht für die Kreativwirtschaft geeignet sind. Wer zu alt ist, nicht über die entsprechende Schlüsselqualifikationen verfügt oder einfach keine Lust mehr hat, sein Leben einer permanenten Beschleunigung und Unvorhersehbarkeit zu unterwerfen, hat in der Kreativgesellschaft wenig zu gewinnen. An die Stelle des Tarifkonflikts tritt die Segmentierung der Gesellschaft.

Tatsächlich nimmt diese soziale Differenzierung gerade auch in den kreativen Milieus extreme Formen an. „Oft arbeiten sie viel, können davon aber nicht leben. Knapp 60 Prozent der Erwerbstätigen in der Kreativwirtschaft leben unter dem einkommenssteuerpflichtigen Grundbetrag von 7.664 Euro“, heißt es im anfangs zitierten Bericht des Wirtschaftsrates des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg.“[28] Ein Großteil der Umsätze wird demnach von nur wenigen „Mega-Playern wie dem Musikkonzern Universal oder dem Springer Verlag erwirtschaftet, während viele freischaffende Kreative nicht von ihrer Tätigkeit leben können. Sie sind entweder auf Subventionen durch das Jobcenter angewiesen oder „schlagen sich mit Hilfe privater Netzwerke mehr schlecht als recht durchs Leben“.[29] Die Ergebnisse der Studie decken sich mit denen der Enquete-Kommission.[30] In der Studie werden daher so genannte „Business Angels“ vorgeschlagen, die den erfolglosen Künstlern Nachhilfe in Sachen Selbstvermarktung und betriebswirtschaftliches Wissen geben sollen.

Zudem entpuppt sich gerade in Krisenzeiten die äußerst individualisierte Arbeitsform als echtes Handicap. Die neuen Kreativen kommen gar nicht dazu, gemeinsame Interessen, Ziele oder Anschauungen zu formulieren, geschweige denn praktisch zu erfahren. Entsprechend verfügen sie kaum über nennenswerte Interessenvertretung oder öffentliche Lobby, die in wirtschaftlichen schlechten Zeiten staatliche Unterstützung organisieren kann, wie es etwa die Automobilindustrie vermag.[31]

Die marode finanzielle Situation vieler Kreativer liegt aber nicht nur in ihrem mangelnden wirtschaftlichen Geschick begründet. Oft lassen sich die von ihnen hergestellte Produkte nur schwer vermarkten.

Selbst diejenigen, die bisher mit der kreativen Selbständigkeit erfolgreich waren, steht plötzlich neuen Problemen gegenüber. So war für Ekkehard Ehlers vor wenigen Jahren die Welt noch in Ordnung. Er brachte die CD „A Life Without Fear“ heraus und wurde in der Presse als Deutschlands musikalische Antwort auf Brian Eno gefeiert. Bei einem ausverkauften Konzert in Schweden wurde er von Fans begrüßt, die T-Shirts mit Motiven des CD-Covers trugen. Wochen später kam für Ehlers der Schock: „Ich habe in ganz Schweden nur zwei CDs verkauft!“ Und auch in Deutschland verkaufte sich das Album nur tausend Mal.

Gleichzeitig zählte Ehlers 25.000 kostenlose Downloads im Internet. Als Musiker sei er von seinen eigenen Fans enteignet worden. So fehlte Ehlers nicht nur das Geld, um neue Musik zu produzieren, sondern auch seinen sonstigen Lebensunterhalt. Er hat Zahnlücken, weil er sich keine Behandlung leisten kann. Nun hält sich Ekkehard Ehlers mit einem Job als Saunameister über Wasser.

Der erstaunliche Aufstieg der Kreativwirtschaft ist daher ein zwiespältiger Erfolg. Er schafft neue Freiräume und ermöglicht dem Einzelnen mehr Autonomie. Zugleich basiert dieser Aufstieg auch auf der massenhaften Selbstausbeutung vieler Kreativer.

Die Auflösung von in früherer Zeit schärfer sozial getrennten Sphären wie denen von Unternehmern und Künstlern hat natürlich nicht nur das Erscheinungsbild des einen Typus – des Unternehmers – verändert, sondern auch den des Künstlers. Der Annäherungs- und Diffusionsprozess verläuft gleichermaßen in beide Richtungen. Während Unternehmer zunehmend öffentlich von bizarren Hobbys sprechen, sich auffälliger als je zuvor kleiden, ihr Privatleben nicht mehr verbergen, sondern zelebrieren  und esoterische Neigungen mit Gefühlstiefe verwechseln und deshalb zur Akzentuierung ihrer „vielschichtigen“ Persönlichkeit gern von diesem oder jenem spleenigen Glauben sprechen, gibt es kaum einen gegenwärtigen Erfolgskünstler, sei es aus dem Bereich der Bildenden Kunst, Fotografie, des Films oder der Literatur, der nicht über einige Managementfähigkeiten verfügt, der nicht in Personalunion Schöpfer, Unternehmer, Reisebüroleiter und Sekretär ist und nicht ständig über seinen „Marktwert“ räsoniert. Der Schriftsteller Thomas Glavinic hat diesen modernen Typus des jungen Erfolgsschriftstellers  – unschwer als Alter Ego zu erkennen – höchst ironisch in seinem Roman „Das bin doch ich“ (2007)  geschildert. Nebenbei sei bemerkt, dass Glavinic früher als Werbetexter gearbeitet hat – ein Beruf, den viele Schriftsteller vor oder neben ihrer literarischen Laufbahn ausüben.

Der Kunstmarkt hat mittlerweile hypertrophe Formen angenommen, die Verquickung von schöpferischem Impuls und Big Business ist nirgendwo augenfälliger als hier. Das Bild vom Künstler als menschenscheuem Sonderling und Eremit am Rande der Gesellschaft hat längst ausgedient – erfolgreiche Künstler sind oft Partyclowns, immer mittenmang dabei; sie  betreiben ein kalkuliertes Networking wie Unternehmer, tummeln sich auf Kunstmessen in aller Welt und sitzen so oft im Flugzeug wie andere Leute im Bus. Sie sprechen von permanent von engen „Zeitfenstern“, ihr Handy bleibt keine fünf Minuten still, und sie sind nie offline. Fazit: Wenn man im ICE einen jungen Mann mit schwarzem Rolli und eleganten Jackett sieht, dazu vielleicht eine „originelle“ Brille, kann man nicht wissen, ob man es mit einem Unternehmer oder mit einem Künstler zu tun hat. Genauer gesagt: Mit einem Unternehmerkünstler oder mit einem Künstlerunternehmer. Spielt die Frage noch eine Rolle? Im Grunde hat man es mit beiden in Personalunion zu tun.


[1] Tagesspiegel, 07.02.2009: Berlin holt auf

[2] Tagesspiegel, 22.01.2009: So kreativ waren die Berliner noch nie

[3] Kulturwirtschaft in Berlin. Entwicklung und Potenziale. Hrsg.: Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen / Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten / Senatsentwicklung für Stadtentwicklung, Berlin, Dezember 2008, S. 22ff

[4] Kulturwirtschaft in Berlin, S. 127

[5] ebenda, S. 127

[6] Tagesspiegel, 18.01.2008

[7] Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ vom 11. Dezember 2007, S. 336.

[8] Richard Florida, The Rise of the Creative Class, Basic Books

USA 2002

[9] Ebenda, S. 249

[10] Der Spiegel, 20.08.2007, S. 98

[11] Matthias Horx: Die kreative Ökonomie. In: Sparte Information und Consulting der Wirtschaftskammer Steiermark (Hg.): creative: graz. Kreativwirtschaft im Grossraum Graz. Potenzialanalyse. Graz, 2006, S. 8

[12] ebenda, S. 10

[13] Michal Söndermann im Gespräch mit Wolfgang Hippe: Denn mit den Künstlern fängt alles an!  In: www.kulturwirtschaft.de/index.php?s=söndermann, 7.9.2007

[14] Gesamtwirtschaftliche Perspektiven der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland. Forschungsgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, Berlin 2009. Zum Wirtschaftsfeld Kulturwirtschaft gehören demnach die Musikwirtschaft, der Buchmarkt, der Kunstmarkt, die Filmwirtschaft, die Rundfunkwirtschaft, der Markt für darstellende Künste, die Designwirtschaft, der Architektursektor, der Pressemarkt, erweitert um den Werbemarkt sowie die Software / Games-Industrie spricht man von Kreativwirtschaft.

[15] Heinz Bude: Generation Berlin, Berlin 2001

[16] Pierre-Michel Menger: Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers. Konstanz, 2006

[17] Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.“ In: Karl Marx, Das Kapital, 3. Bd. (MEW Bd. 25), Berlin 1985, S. 828

[18] ebenda

[19] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M.,1990, S.128

[20] Luc Boltanski/Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz, 2003.

[21] Ebenda, S. 222ff

[22] Arndt Neumann: Kleine geile Firmen, Hamburg, 2008

[23] Gerald Raunig: Kreativindustrie als Massenbetrug, In: Kritik der Kreativität. Hg. Gerald Raunig/Ulf Wuggenig. Wien, 2007, S. 75

[24] Jeffrey Young/William L. Simon: Steve Jobs und die Geschichte eines außergewöhnlichen Unternehmens, Frankfurt a.M., 2006, S. 39

[25] Deutscher Gewerkschaftsbund (HG): Berlin – Hauptstadt der prekären Beschäftigung. Berlin, 2008

[26] Jakob Schrenk: Gib das Letzte. In: Neon, Juli 2006, S. 81

[27] Sergio Bologna: Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit. Graz, 2006,

[28] Tagesspiegel, 18.1.2008: Zentrum der Kreativen

[29] Neues Deutschland, 18.1.2008: Bezirk der kultivierten Armut

[30] Demzufolge verdienten Künstler und Publizisten 2004 gerade mal 11.000 Euro im Durchschnitt.

[31] Tagesspiegel, 2.3.2009: Freiberufler fürchten um 400.000 Jobs

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