Kunst fördert Verständigung – Zur aktuellen Einwanderung (vorwärts, Februar 2015)

veröffentlicht in vorwärts, Februar 2015
Kultur kann Grenzen überwinden, von Menschen in sehr unterschiedlichen nationalen Kontexten verstanden werden, sagt die Schriftstellerin Tanja Dückers. Beispiel: Die hier abgebildeten Reste der Mauer der East Side Gallery in Berlin.
In meinem Beitrag über kulturpolitische Ziele für das nächste Jahrzehnt möchte ich mich nicht in die Niederungen von haushaltspolitischen Details verirren – das ist nicht mein Terrain als Schriftstellerin. Worüber ich schreiben möchte, ist die Bedeutung von Kultur in Zeiten der überall in Europa zu beobachtenden Renationalisierungstendenzen.

Chauvinistische Ideologien sind mittlerweile in ganz Europa sowie in Russland verbreitet. Man könnte zahllose Beispiele dafür nennen – unter anderem den Erfolg politischer Parteien wie der Wahren Finnen, der Schwedendemokraten, der Polnische Bauernpartei, der Jobbik-Partei in Ungarn oder der Partij voor de Vrijheid (PVV, deutsch: „Partei für die Freiheit“), den Rechtspopulisten unter Geert Wilders in den Niederlanden.

Die EU-Parlamentswahlen im vergangenen Jahr haben deutlich gezeigt, dass die Rechtspopulisten in fast allen Ländern keine Randerscheinung, sondern fester Bestandteil der jeweiligen politischen Landschaft sind. In Großbritannien (UKIP) und Frankreich (Front National) haben ihre Wahlergebnisse alle Erwartungen übertroffen. Sie alle eint die Instrumentalisierung der Mittelschichtsängste vor dem sozialen Abstieg. Sie alle versprechen, dass künftig kein Cent mehr an die ökonomischen Verlierer verschwendet wird oder noch mehr „Fremde“ aufgenommen werden.

Von der Politik enttäuscht, doch Schuld sollen Zuwanderer sein

Die Aussage „Zuwanderer, die hier leben, bedrohen meine persönliche Lebensweise und meine Werte“ stößt bei vielen Europäern auf Zustimmung, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie („Die Abwertung der Anderen“) der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) belegt. Das Ergebnis der FES-Studie: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Vorurteile gegenüber als „fremd“ oder „anders“ Empfundenen, ist in Europa weit verbreitet. „Rund die Hälfte aller europäischen Befragten ist der Ansicht, es gebe zu viele Zuwanderer in ihrem Land“, heißt es in der Studie. In den Niederlanden stießen die abwertenden Aussagen auf die niedrigsten Zustimmungswerte, in Polen und Ungarn auf die höchsten.

Ausdrücklich warnt die Studie vor einer Zunahme des Rechtspopulismus. Viele Menschen seien zwar nicht grundsätzlich desinteressiert an Politik, fühlten sich aber von den Politikern alleingelassen. Die Klagen dieser Menschen richteten sich aber nicht gegen die etablierten Parteien, sondern gegen Zuwanderer, Muslime und schwache Gruppen in der Gesellschaft. Diese chauvinistische, mit betriebswirtschaftlichem Pragmatismus verbundene Einstellung scheint Europa immer mehr zu dominieren, nicht nur, wenn es um gesellschaftliche Minderheiten geht. Diese Einstellung ist sehr gefährlich. Und sie hat viele lautstarke Befürworter.

Kultur kann Grenzen überwinden

Doch nun zur Kultur: Kultur, genauer gesagt, Malerei, Musikstücke, Bücher, Theaterstücke, Filme, Architektur, Design und Mode – meine Liste ist unvollständig – sie alle können Grenzen mühelos überwinden, von Menschen in sehr unterschiedlichen nationalen Kontexten verstanden werden. Nicht selten geschieht es, dass ein Künstler in einem anderen Land als seinem Heimatland viel größere Erfolge feiert. Man denke hier nur an verschiedene im Ausland sehr erfolgreiche DDR-Künstler. Je größer der Radius ist, den Kultur im öffentlichen Raum einnimmt, desto größer ist das Terrain, was nicht-national besetzt ist.

Anders als die Religion, die auch transnational ist und Anhänger aus den unterschiedlichsten Ländern mobilisieren kann, zielt Kultur – zum Glück – auf keinerlei Mobilisierung ab. Künstler sind der Missionierung relativ unverdächtig, wenn man von wenigen staatlich beauftragen Künstlern in Diktaturen absieht. Auch die Nazis haben Künstler für Propagandazwecke eingesetzt. Aber der überwiegende Teil der damals im Deutschen Reich lebenden Künstler ist geflohen, inhaftiert, zum Teil umgebracht worden. – Auch ist ein Kunstwerk immer ein Kommunikationsangebot, aber eines, das „anders“ funktioniert.

Kunst fördert die Neugierde am Anderssein, am Anderen

Ein Buch, ein Film, ein Lied spricht anders zu mir über die gleichen Sachverhalte als ein Tagesschau-Moderator. Wirklichkeit ist hier durch einen subjektiven Filter transformiert worden, in eine subjektive Wahrnehmung übersetzt worden. Dieses „Anders-Erzählen“ setzt immer auch vom Rezipienten voraus, dass er anders zuhört, anschaut, wahrnimmt. Jeder Betrachter eines Kunstwerkes meistert schon diese Übersetzungsleistung, sofern er mit dem Werk „etwas anfangen“ kann. Insofern fördert die Beschäftigung mit Kunst a priori die emphatische Einfühlung, die Neugierde auf Unbekanntes, die Lust am „anders Denken“, am Anderssein, kurz: am Anderen. Diese Eigenschaften sollten es einer Demokratie wert sein, gefördert zu werden.

Stipendien, Austauschprogramme, Künstlerbegegnungen geben die Gelegenheit, sich über Grenzen und Kulturräume hinweg zu verständigen. Die von mir geschätzte Kulturstaatsministerin Monika Grütters, leider nur der falschen Partei zugehörig, äußerte in der neuen „spritz“ (Sprache im technischen Zeitalter) den zitierungswürdigen Satz: „Den Gedankenaustausch in den meinungsbildenden Milieus einer Gesellschaft halte ich für besonders wichtig“. Sie meint hiermit explizit Künstler und Kreative.

Nie zuvor hatte die Kultur solch eine Breitenwirkung wie heute

Längst sind Künstler und Kreative keine Randerscheinungen der Gesellschaft mehr, sondern in ihrer Mitte angekommen. Die Kreativwirtschaft hat die Chemische Industrie an ökonomischer Bedeutung für den Standort Deutschland längst abgelöst. Die Enquete-Kommission zur Bedeutung der Kreativwirtschaft in Deutschland hat hierzu hinlänglich überzeugende Zahlen vorgelegt. Die Werke von Künstlern und Kreativen werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, von Tausenden, manchmal auch Millionen von Menschen wahrgenommen. Künstler und Kreative sind – anders als das berühmte Gemälde „Der arme Poet“ (1839) von  Carl Spitzweg suggeriert – sehr einflussreich.

Anders als früher erreichen sie nicht nur eine hochgebildete Minorität. Sie treten in Talkshows und auf großen Festivals auf, ziehen zum Teil ein Massenpublikum an. Museen und Kunstmessen sind zu Publikumsmagneten geworden. Große Museen sind die Kathedralen der Gegenwart. Noch nie hat Kultur solch eine Breitenwirksamkeit wie in den letzten Dekaden, vielleicht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, entfaltet. Filme, Bücher, Gemälde und Songs prägen den Zeitgeist, die Haltung, das Denken. Sie können durchaus kollektive Stimmungen anheizen oder abkühlen lassen.

Kunst als Mittel der transnationalen Verständigung

Dass Künstler und Kreative andere Bilder vom Leben, von ihrer Gesellschaft entwerfen als die scheinbar objektiven, in manchen Ländern auch staatlich kontrollierten „Nachrichtenbilder“ der Wirklichkeit, ist von unschätzbaren Wert für eine Gesellschaft als Form der kritischen Selbstreflektion – für Demokratien und erst recht für Diktaturen oder Quasi-Diktaturen. Und ich habe das Gefühl, dass Kunst und Kultur im Moment immer wichtiger werden als Mittel und Form der transnationalen Verständigung und als Form der gesellschaftspolitischen Einflussnahme – dafür braucht man nicht erst Namen wie Ai Wei Wei (China), Orhan Pamuk (Türkei), Péter Esterhazy (Ungarn), Wladimir Georgijewitsch Sorokin (Russland), Oksana Sabuschko (Ukraine) oder Nicoleta Esinencu (Republik Moldau) ins Feld zu führen.

© Tanja Dückers, Februar 2015

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