veröffentlicht auf ZEIT Online, Mai 2014
Am 6. Mai ist Internationaler Anti-Diät-Tag. Mittlerweile gibt es für viele Anliegen einen weltweiten Aktions- oder Gedenktag. Ehrwürdiges steht neben Skurrilem. Es gibt den Writers-in-Prison-Day (15. November), der an verfolgte, inhaftierte und ermordete Schriftsteller erinnert, aber auch den Weltnudeltag (25. Oktober) und den Welttoilettentag (19. November).
Den Anti-Diät-Tag hat die britische Autorin Mary Evans Young im Jahr 1992 ins Leben gerufen. Sie selbst litt an Magersucht und wollte darauf hinweisen, dass Diäten der Anfang von lebensgefährlichen Essstörungen sein könnten.
Tatsächlich gehören Anorexie und Bulimiezu den häufigsten chronischen Krankheiten im Kindes- und Jugendalter. Seit Beginn der neunziger Jahre hat die Anzahl der erkrankten Mädchen und jungen Frauen in den Industrienationen stark zugenommen. Immer öfter sind auch junge Männer betroffen.
Nach dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch-Instituts liegt bei etwa einem Fünftel aller 11- bis 17-Jährigen in Deutschland der Verdacht auf eine Essstörung vor. Bei einem Drittel der Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren gibt es Anzeichen einer Essstörung, bei den Jungen sind es 13,5 Prozent. In deutschen Krankenhäusern wurden im Jahr 2012 rund 7.000 Fälle diagnostiziert. Jeder hundertste Patient hungerte sich zu Tode.
Viele denken beim Thema Magersucht: Darüber weiß ich Bescheid. Junge Mädchen sehen zu viel Germany’s Next Topmodel und wollen in die engste Jeans hineinpassen. Schönheitswahn eben. So einfach ist es nicht. Krankheitsbilder wie Bulimie oder Anorexie sind viel komplexer: Eigenschaften wie starke Impulskontrolle, Perfektionszwang, ausgeprägte Leistungsorientiertheit und hohe Selbstdisziplin finden sich besonders häufig unter Magersüchtigen. Ihre Schulleistungen sind, sofern es sich um Schüler handelt, fast immer überdurchschnittlich, sie sind sozial unauffällig und sehr angepasst.
Es wird sogar eine idealtypische Magersuchtfamilie beschrieben: Sie gilt als sehr harmoniebedacht. Streit wird vermieden. Die Familie grenzt sich von der Außenwelt ab. Eltern neigen zu überfürsorglichen, protektivem Verhalten und hindern ihre Kinder eher daran, autonom zu werden. Die idealtypische Magersuchtfamilie ist pflichtbewusst und hat hohe moralische Ansprüche. Die Familienmitglieder werden in ihrem sozialen Umfeld oft als tüchtig und strebsam wahrgenommen.
Es ist sicher trotzdem ein Schritt in die richtige Richtung, wenn die junge Autorin Laura Pape, ehemals selbst magersüchtig, pünktlich zum Finale der Castingshow Germany’s Next Topmodel am kommenden Donnerstag eine Onlinepetition gegen Magerwahn an Heidi Klum adressiert. Mehr als 16.000 Menschen haben Papes Petition unterschrieben. „Ich sage nicht, dass Heidi Klum Mädchen in die Magersucht treibt“, sagt die 20-Jährige, die gerade das Buch Lebenshungrig – mein Weg aus der Magersucht veröffentlicht hat. Allerdings könne, so Pape, die Sendung einen weiter in die Sucht reißen, falls man schon psychisch vorgeschädigt sei. „Da sieht man Mädchen, die den ganzen Tag auf ihre Ernährung achten, immer wieder Sport treiben und alle perfekt sind.“
Anti-Perfektionstag statt Anti-Diät-Tag
Tatsächlich ist in den letzten Jahren das Gesundheitsbewusstsein der Deutschen erheblich gestiegen. Die Debatten über das Rauchverbot in Gaststätten oder um einen möglichen Veggie Day pro Woche haben wochenlang die Gemüter der Nation erhitzt. Kaum einer traut sich heutzutage noch, jeden Tag ein Ei zu essen – wegen seinem Cholesterin-Spiegel. Nach Zucker und Fett sind jetzt auch noch die Kohlehydrate unter Verdacht geraten.
Aber mit dem gewachsenen Gesundheitsbewusstsein sind nicht weniger, sondern mehr Menschen an Magersucht erkrankt. Vielleicht verschärft der Trend, seine Ernährung so perfekt wie möglich zu kontrollieren und seine körperliche Selbstoptimierung voranzutreiben das Problem noch. Eine schier unübersehbare Flut von neuen Ratgebern mit Titeln wie Kotzt du noch oder lebst du schon?, Magersucht ist kein Zuckerschlecken oder Alice im Hungerland offenbart das hohe Bedürfnis nach Hilfe und Information.
Die Magersucht-Thematik ist komplex und hat nur vordergründig etwas mit Schick- und Schönsein zu tun. Es geht vielmehr darum, die eigene Disziplin, Tüchtigkeit und Unbeirrbarkeit ständig neu zu beweisen – gerade auch, wenn andere den Magerwahn kritisieren. Der 6. Mai ist also ein guter Tag, um uns zu fragen, welche Werte unsere Gesellschaft vermittelt. Aber vielleicht sollte er nicht Anti-Diät-Tag sondern Anti-Perfektionstag heißen.
© Tanja Dückers, Mai 2014