Europa in der Krise (Heinrich-Böll-Stiftung Brüssel, Juni 2012)

Europa in der Krise –

Podium am 20. Juni 2012, Heinrich-Böll-Stiftung Brüssel

 

Vor sieben Jahren hatte ich ein sehr eigentümliches, beklemmendes Erlebnis: Ich berichtete für die ZEIT vom Weltjugendtag in Köln. Papst Benedikt XVI, damals gerade erst vor wenigen Wochen zum Kirchenoberhaupt gewählt, war zu diesem Ereignis zum ersten Mal in seiner Amtszeit nach Deutschland gereist. Da ich schon vor Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten war, fand meine Reise nach Köln rein unter journalistischen und soziologischen Gesichtspunkten statt – ich würde dem Papst nicht zujubeln. Dass ich auf dem Weltjugendtag mehr über Nationalismen und die Haltung zu Europa erfahren sollte statt über den auf dem Weltjugendtag ziemlich im Hintergrund agierenden Papst und den Stand des Christentums heute, war mir vorher nicht bewusst. Jenseits aller christlichen Ideale von Gleichheit, Demut und Bescheidenheit drängte in Köln die Bedeutung von Identität und Nationalbewusstsein mit ungestüm-jugendlicher Vehemenz in den Vordergrund, war das beherrschende Erlebnis. Die Stimmung war tatsächlich nicht anders als beim Public Viewing während einer WM oder EM: Hier skandierten junge Leute mit riesigen blau-weiß-roten Fahnen „Vive la France“, dort stimmbruchlastig „Bälla Italia!“, weiter hinten grölte eine Hundertschaft unter einem rot-weißen Fahnenmeer: „Polska!“ Man winkte sich mit den Fahnen zu, man hüllte sich von Kopf bis Fuß in sie ein, man trug Stirnbänder und Armbändchen mit dem nationalen Erkennungszeichen. Viele Jugendliche lernten in diesen Tagen sicher mehr über Geographie als über Fundamentaltheologie. Neben der unübersehbaren Bedeutung nationaler Identität für die globalen Pilger fiel mir auch die Tendenz zum Partikularen, zum Regionalspezifischen auf: Wer aus Bayern kam, hielt lieber die bayrische als die deutsche Fahne hoch, wer aus Krakau angereist war, schrieb „Kraków“ auf seine Polen-Fahne. Auf einmal entdeckte ich inmitten dieses Fahnenmeers etwas sehr Seltenes, eine rare Spezies, eine vom Aussterben bedrohte Art unter den Fahnen – einsam wehte sie da: Gelbe Sterne auf nachtblauem Grund, kaum vom funkelnden Abendhimmel über Köln zu unterscheiden, schüchtern zwischen all dem Stars n’ Stripes, dem Ordem e Progresso, dem Rot-Weiß und dem Schwarz-Rot-Gold: die Europa-Fahne. Unter Hunderttausenden von Flaggen sah ich nur eine einzige Europa-Flagge, nur ein einziges transnationales Symbol – und dass auch nur ein Jahr nach einem der wichtigsten Ereignisse der Nachkriegsgeschichte: Nach der EU-Osterweiterung (2004), mit der die bipolare Weltordnung des Kalten Kriegs endgültig aufgehoben worden war. Die Hüter des Schatzes waren Franzosen. Ich sprach sie an: „Ihr seid hier die einzigen mit einer Europaflagge…“ – „Ja, niemand weiß hier, woher wir kommen, das ist schon ein Problem, alle gucken uns blöd an, manche sagen auch … Doofes zu uns über die EU, aber … ehrlich gesagt … naja, klingt vielleicht komisch, aber … tatsächlich … mögen wir die europäische Idee.“ Dem folgte ein ängstlicher Blick über die Schulter, ob irgendjemand hören könnte, was sie hier so Ketzerisches von sich gaben.

Dieses ernüchternde Erlebnis liegt nun sieben Jahre zurück. Wirklich etwas geändert hat sich nach meinem Eindruck hinsichtlich der Popularität der europäischen Idee nicht. Es scheint eine geradezu panische Angst vor Vereinnahmung „durch Brüssel“ vorzuherrschen. Für die Betonung des Nationalen und Partikularen könnte man hingegen zahllose Beispiele nennen.

Eines davon möchte ich noch erwähnen, weil es mich besonders geärgert hat:

Im Jahr 2004, also wohlbemerkt im Jahr der EU-Osterweiterung, wurde im Zweiten Deutschen Fernsehen eine Serie zum Thema Flucht und Vertreibung gezeigt. Der Historiker Guido Knopp hatte die Serie inhaltlich zu verantworten. Nachdem ich die Serie gesehen hatte, bezeichnete ich sie in einem Essay als „Knoppaganda“.

In der mehrteiligen Serie ging es ausschließlich um die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung. Eingangs wurde immer kurz gebetsmühlenartig festgehalten, dass ja Hitlerdeutschland andere Länder überfallen habe – aber nach diesem allzu routinierten Schuldeingeständnis hagelte es Bilder von armen deutschen Opfern, von abgemagerten Pferden vor hinfällig aussehenden Holzkarren etc.. Diese Bilder sind längst Bestandteil des kollektiven deutschen Gedächtnissen geworden. Über Flüchtlinge und Vertriebene anderer Nationen – Polen, Ukrainer, Tschechen, Russen – erfuhr der geneigte deutsche Zuschauer rein gar nichts. Und dass im Jahr der EU-Osterweiterung, in dem überall getönt wurde, dass man die ja so schreckliche, unheilvolle Geschichte Europas im 20. Jahrhundert unbedingt „transnational aufarbeiten“ sollte.

Es hat derweil viele – meist reichlich verkrampfte und irreführende – Versuche gegeben, so etwas wie eine europäische Identität zu definieren. Überzeugend gelungen ist dies bislang nicht. Und ich meine: dies ist in einer festlegenden Weise auch gar nicht nötig. Auch ohne das Korsett einer vermeintlich klar konturierten Identität kann man ein überzeugter Pro-Europäer sein – auch ohne fragwürdige Ausschluss-Kriterien zu formulieren wie „Der Islam gehört nicht zu Europa“ oder diese oder jene Lebensweise oder kulturelle Hervorbringung sei identitär bestimmend für Europa. In einem unleugbar pluralistischen Europa, zu dem verschiedene Religionen ebenso wie verschiedene kulturelle Prägungen dazu gehören, führen genau solche Ausschluss-Kriterien nur zu innereuropäischen Zerwürfnissen, Abgrenzungen und Nationalismen.

Die europäischen Länder sind für mich eher wie eine Familie mit sehr unterschiedlichen Mitgliedern. Sie sind geographisch und historisch untrennbar miteinander verbunden – in ihrer Unterschiedlichkeit, die man lieber akzeptieren als kleinreden sollte. Es gibt eine bekannte Sozialstudie, aus der hervorgeht, dass Geschwister sich charakterlich stärker voneinander unterscheiden als zwei beliebige Passanten auf der Straße – denn jeder sucht sich im Gefüge der Familie seine eigene Position, seine familienkonstellatorische Nische. Nähe und Verschiedenheit hängen sogar geradezu miteinander zusammen, bedingen einander. Vielleicht kann man in Europa Unterschiede nach diesem Modell besser begreifen und tolerieren.

Eine gangbare, sinnvolle Alternative zu einem vereinten Europa gibt es nicht, insofern sollte man die proeuropäischen Kräfte und Ideen überall stärken, anfangen im Bildungswesen. Die Jugendlichen vom WJT haben „Nationalstaat“ und „Europa“ als Gegensätze empfunden – das muss aber eben nicht so sein. Man kann das Partikulare und das Kollektive auch als zwei ideelle Behausungen, ähnlich wie bei einer russischen Matroschka, empfinden.

Ich habe es immer wieder als enorm befreiend erlebt (und zwar keineswegs nur auf praktischer Ebene), quer durch Europa fahren zu können ohne meinen Pass zeigen zu müssen – und, vor allem, im Wissen darum, dass hier in diesem vereinten Europa nicht so schnell wieder ein Krieg ausbrechen wird. Allein die Schrecknisse der beiden Weltkriege und der bipolaren Weltordnung von 1945-1989, die ich, geboren und aufgewachsen in Berlin-West, in der amputierten Insel- und Frontstadt des Kalten Krieges, sehr intensiv zu spüren bekommen habe, sind für mich Grund, heilfroh über ein vereintes Europa zu sein. Nie werde ich den russischen T34-Panzer vergessen, dessen Kanonenrohr auf uns Westberliner am Grenzübergang Dreilinden gerichtet war und der mich als Kind und Heranwachsende ängstigte. Ganz zu schweigen von den Mauertoten, die nur ein paar Kilometer von unserer Glitzerwelt aus KaDeWe und Ku’damm ihr Leben lassen mussten.

Ich möchte mit einem Gedicht schließen, dass ich im Mai 2004 nach den Feierlichkeiten auf einer der Oder-Brücken geschrieben habe:

Frankfurt (Oder) – Słubice (am Tag der EU-Osterweiterung)

Um uns warme Luft und Laster

Parfüm und Kohlenmonoxid

Wir gehen vor und zurück

vor und zurück

durch Duft und Gestank

Wir gehen ganz auf im Gehen

Vor und zurück

im Brückenmenschenglück

Die Oder als neuer

gedanklicher Aggregatzustand

Selbst die Pfützen

glänzen festlich

bis der nächste Laster kommt

Die Gerüche vermischen sich noch nicht

Breitbeinig bleiben sie nebeneinander stehen

Bis der nächste Laster kommt

laufen wir vor und zurück

Über die Oder

 

© Tanja Dückers, Berlin, im Juni 2012

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