Die gefährliche Sehnsucht nach Familie

Die Familie – eine seltsame Aura umgibt diesen Begriff in Deutschland. Er suggeriert Geborgenheit, Halt, Tradition. Und wird damit gefährlich überhöht.

Seit einiger Zeit wird in den Medien das „Neue Bürgertum“ – ein ebenso vager wie verheißungsvoller Begriff – heraufbeschworen. Magazine wie Cicero lichten zur Illustration des „neuen Bürgers“ gern Großfamilien ab, natürlich in bourgeoisem Ambiente. „Familie“, wo man auch hinschaut: Jana Hensel schreibt in der ZEIT über die großen und kleinen Probleme junger Familien aus dem kreativen Freiberufler-Milieu – andere Milieus werden von Übermüttern wie von der Leyen oder Heidi Klum repräsentiert.

Auch nach der Shell-Jugendstudie 2010 steht „Familie“ bei den 12- bis 25-Jährigen wieder hoch im Kurs. Warum „Familie“ in Anführungszeichen? Weil es sie de facto immer weniger gibt, und sie zunehmend zum Mythos wird. „Familie“ zu haben, ist keineswegs mehr selbstverständlich, sondern wird für viele zu einer diffusen Hoffnung – sie gilt als letzter Hort emotionaler Geborgenheit. In einer als unheil erlebten Welt, in Zeiten politisch-ökonomischer Verunsicherung, scheint die Sehnsucht nach einer heilen Familie, nach Tradition, Beständigkeit und Halt gewachsen zu sein. „Familie“ steht – in der Theorie – für dauerhafte Beziehungen.

Denn Beziehungen zu Freunden und Arbeitspartnern werden immer kurzlebiger – Freunde antworten auf eine Mail nicht mehr und tauchen ab, die Arbeitsmarktfluktuation ist heute größer als sie es jemals war. Heute wechselt ein Arbeitnehmer in Deutschland im Durchschnitt siebenmal das Arbeitsumfeld – in den USA elfmal. Und die Zahl der Freiberufler, die von vorneherein allein oder mit wechselnden Arbeitskollegen arbeiten, hat immens zugenommen.

„Familie“ ist auch eine Antwort auf die Globalisierung, es ist die kleinste regionale Entität. Mit dem Rekurs auf sie beruft man sich wieder auf das Körperliche, das Sichtbare, das Verwandte und Analoge – in einer zunehmend ensinntlichten, körperfernen, ungreifbaren Welt.

Vielleicht hat die Sehnsucht nach scheinbar Greifbarem und Unveränderlichem im Moment deshalb so zugenommen, weil es kaum innerhalb von wenigen Generationen derart viele extreme politische und gesellschaftliche Veränderungen gegeben hat wie in den letzten hundert Jahren. Die Deutschen haben einfach kein Bedürfnis mehr nach noch mehr „Neuheiten“. Ruhe, Besinnung, Innehalten, Altes, Tradiertes, Bekanntes und Verwandtes – das scheint, trotz themenspezifischen Protesten hier und da, die Großwetterlage zu sein.

Allerdings: Durch die Synonymsetzung von „Familie“ mit Liebe, Geborgenheit, Zufriedenheit, Sinn, Halt, Tradition, Herkunft und vielen anderem mehr, wird der Begriff heute mit einer Vielzahl von Heilserwartungen überfrachtet und überhöht.

Dabei ist die Familie auch heute nicht mehr und nicht weniger als ein Beziehungsgeflecht. Doch während die Familie Jahrhunderte lang als genealogische Kohorte unhinterfragt blieb – ebenso wie die Ehe als gegenseitige Absicherung – ist „Familie“ heute etwas geworden, das man sich zulegen kann. Während Kinder früher Alterssicherung bedeuteten, werden sie heute oftmals als Erlebnis, das man sich leistet oder nicht, betrachtet. Paare entscheiden sich bisweilen für Kinder wie für ein Auto, eine Weltreise oder ein Eigenheim. Und nur weil „Familie“ und Kinder plötzlich optional geworden sind, konnten sie zu Sehnsuchtsschablonen werden. Was selbstverständlich ist, braucht nicht mythisch überhöht zu werden. Mit der Familie scheint es wie mit dem Kochen zu sein: Immer mehr Menschen begeistern sich für Kochsendungen im Fernsehen, immer weniger Menschen kochen selber. Ein Mythos entsteht immer aus einem Mangel, er lässt ihn hinter dem Glanz des Überhöhten umso deutlicher in Erscheinung treten.

Der Wunsch nach „Familie“ scheint nämlich in krassem Widerspruch zur Fähigkeit oder den Möglichkeiten vieler Menschen zu stehen, eine solche zu gründen. Im Moment bekommen vor allem zwei sozioökonomische Gruppen (viele) Kinder: Die, die sich’s leisten können, weil sie viel Geld haben. Und die, die sich’s leisten können, weil sie viel Zeit haben: die sogenannten Unterschichtler, für die sich Karriere als Pendant zu „Familie“ gar nicht darstellt. Auch haben sich die Ausbildungszeiten in Deutschland derart verlängert, dass viele Paare erst mit Mitte, Ende Dreißig an Kinder denken: nachdem sie beruflich hinreichend Fuß gefasst haben. Doch die karrieristische und die reproduktive Kurve verlaufen nicht parallel – schon mit Mitte Dreißig kann nur noch jede zweite Frau ein Kind empfangen, jedes siebte Paar ist in Deutschland ungewollt kinderlos.

Doch auch wenn es mit dem Nachwuchs klappt: Das Enttäuschungspotenzial, das die heile Welt der Familie birgt, ist selten größer gewesen. Auf dem Nachwuchs lastet historisch einmalig die Bürde, die „gute“ Entscheidung ihrer Eltern fortan unter Beweis zu stellen. Die Selbstmordrate und die Anzahl von Gewalttaten innerhalb von Familien steigen in den Weihnachtstagen immer stark an, Seelsorger und Kriminologen wissen dies.

Tradition und Herkunft durch eine Familiengründung implementieren zu wollen, ist insofern von vorneherein ein schwieriges, wenn nicht zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, weil Kinder qua natura eher kleine Anarchisten als Hüter der Tradition sind, d.h. die romantische Sehnsucht nach Familie wird in jedem Fall mit der Wirklichkeit konfrontiert. Auch wenn sie sich meist nach einer Sturm-und-Drang-Phase ihren Eltern wieder annähern: Eltern werden kaum umhin kommen, mit der (zeitweiligen) Infragestellung ihrer selbst konfrontiert zu werden. Kinder bedeuten Zukunft und Wagnis und nicht Tradition und Vergangenheit. Wer sich selbst und sein Weltbild nur durch Kinder verlängert wissen möchte und den Nachwuchs zur eigenen psychischen Stabilisierung in Zeiten von Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst zu brauchen meint, könnte eine böse Überraschung erleben.

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