Die Angst im Speckgürtel

ZEIT Online, 15. Dezember 2008

Warum in wohlhabenden Bundesländern der Wohlstandschauvinismus so ausgeprägt ist

Hier ist die Welt noch in Ordnung: Die Bürgersteige sind gekehrt, die Blumenbeete adrett angelegt, von sozialem Verfall oder glatzköpfigen Proleten weit und breit keine Spur. Und trotzdem legt eine neue repräsentative Untersuchung nahe, dass ausgerechnet in wohlhabenden Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg rechtsextremes Denken besonders häufig anzutreffen ist.

In Regionen also, die eine Arbeitslosenquote von höchstens vier Prozent aufweisen, die scheinbar allen Stereotypen widersprechen, die über ausländerfeindliche Ressentiments bestehen: Diese Regionen sind nicht in starkem Maße von Wende- und Globalisierungsverlierern geprägt, von jungen Männer mit wenig Grips und viel Alkohol im Blut, die alles ablehnen, das ihnen fremd erscheint.

Vielmehr steht der Süden der Republik immer noch für eine Erfolgsgeschichte: Vielerorts herrscht nahezu Vollbeschäftigung, die Beschäftigten verdienen überdurchschnittlich gut, die Bevölkerung verfügt über einen hohen Lebensstandard.

Rechtsextreme Einstellungen, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus sind hier nicht weniger präsent als in den ostdeutschen Bundesländern, die lange Zeit die Spitzenwerte dafür abonniert zu haben schienen. Das belegt eine Studie der Leipziger Universität, die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung vor Kurzem veröffentlicht wurde. Nirgendwo sonst ist nationaler Chauvinismus häufiger anzutreffen als in Bayern, in kaum einem anderen Bundesland sind antisemitische Ansichten ausgeprägter als in Baden-Württemberg.

So liegen die Bayern mit Chauvinismus-Zustimmungswerten von 30,4 Prozent einsam an der Spitze. Mecklenburg-Vorpommern folgt mit 27,6 Prozent, bundesweit sind es 18,1 Prozent. Auch was die Ausländerfeindlichkeit betrifft, ist Bayern mit 39,1 Prozent ganz vorne dran, nur knapp überrundet von Sachsen-Anhalt mit 39,2 Prozent. Bundesweit sind nach der Studie rund ein Viertel der Deutschen als ausländerfeindlich zu charakterisieren. Durchschnittlich stimmen neun Prozent antisemitischen Äußerungen zu, in Bayern sind es 16,6 Prozent, gefolgt vom Nachbarn Baden-Württemberg mit 13,3 Prozent.

Dabei wächst der Wohlstandschauvinismus im Süden der Republik nach Meinung der Autoren nicht trotz, sondern gerade wegen der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte – vergleichbar mit der paradoxen Situation in vielen ostdeutschen Regionen, wo Ausländerfeindlichkeit vor allem dort weit verbreitet ist, wo es kaum Ausländer gibt. Im Westen der Republik kommen rechtsextreme Ansichten zum Vorschein, wenn man um den eigenen Besitzstand fürchtet. „Wohlstand wurde nach dem Krieg in Deutschland ein Ersatz für die verlorene Rassen- und Herrenideologie“, erklärt Oliver Decker, einer der Autoren der Studie. Ist dieser Wohlstand bedroht, tauchen die alten Ressentiments wieder aus der kollektiven Versenkung auf.

Dass sich gerade die Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg fürchtet, zeigten bereits andere Untersuchungen. So kam eine Studie des DGB vor sieben Jahren zu dem Ergebnis, dass unter Gewerkschaftsmitgliedern rassistische Einstellungen weit verbreitet seien. Die DGB-Studie konstatierte bei westdeutschen Jugendlichen einen „Wohlstandschauvinismus“ in Folge einer „Überidentifikation mit den deutschen Wirtschaftsinteressen“. Besonders anfällig waren demnach auch „Facharbeiter und Angestellte in unteren Leitungspositionen“ – Personen mit meist niedrigen allgemeinen Bildungsabschlüssen und einem verhältnismäßig hohen Einkommen; Menschen also, die sich „im Beruf hochgearbeitet“ haben.

Anlass zur Sorge haben diese Angehörigen der Mittelschicht im deutschen Speckgürtel allemal. Seit Jahren müssen sie einen Reallohnverlust hinnehmen, und selbst in den vermeintlich guten Zeiten des Aufschwungs hinken die Löhne dem Wachstum hinterher – um bei ökonomischer Talfahrt natürlich weiter abzufallen. Eine Entwicklung, die mit einem zunehmenden sozialen Gefälle einhergeht: Während die Spitzenverdiener weiter zulegen können, erleben die Mittelschichten einen dramatischen Reallohnverlust. In keiner anderen Industrienation nimmt das Lohngefälle so rapide zu wie in Deutschland, wie eine aktuelle Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) belegt. Hinzu kommt, dass jahrzehntelang als krisensicher geltende Jobs bei Banken, Versicherungen und vor allem in der Automobilindustrie mittlerweile vom Abbau bedroht sind.

Wer sich nun die vergangenen Jahr gewundert hat, wieso es angesichts dieser dramatischen Entwicklung zu keinen nennenswerten sozialen Protesten kam, kann in den Umfragen der Leipziger Wissenschaftler eine Antwort finden. Die ganze Wut scheint sich gegen diejenigen zu wenden, die sich am unteren Rand der Gesellschaft befinden und bei einem verengten Stellenangebot als potenzielle Konkurrenten betrachtet werden. Und gegen die viel beschworenen „anonymen Mächte“, die unangreifbar in weiter Ferne ihre Strippen ziehen – vermeintlich bevorzugt an der US-amerikanischen Ostküste. Nur gegen die Verantwortlichen im eigenen Land scheint sich die Wut der vom Abstieg bedrohten Mittelständler nicht zu richten.

Dabei geben die Forscher zu bedenken, dass die Umfrage in einer „relativ entspannten Zeit“ erfolgte. Die beunruhigende Frage ist nun, wie sich die Einstellungen angesichts der derzeitigen dramatischen Wirtschaftskrise noch verändern werden.

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