Deutschland im Winter – Besuch auf der Nordseeinsel Sylt

veröffentlicht in Jungle World, Februar 2010

Die Wetterprognosen sind miserabel und werden es lange bleiben. Selbst das Wattenmeer ist zugefroren. Nur wenige mutige Besucher verbringen freiwillig unter diesen Bedingungen ihre Ferien auf der Nordseeinsel Sylt. Was suchen sie, und vor allem, was finden sie dort?

»Herzlich willkommen auf der Einstock-Einheit. Stellen Sie bitte die Motoren ab.« Auch wenn sich unser Funknetz bereits in Dänemark wähnt, stellt die krächzende Ansage in der Bahn unmissverständlich klar, dass wir uns noch im deutschen Sprachraum befinden. Wer mit dem Auto nach Sylt fahren will, muss auf dem Zug nicht nur eine wenig charmante Begrüßung über sich ergehen lassen, sondern anschließend noch über den so genannten Hindenburgdamm auf Deutschlands beliebteste Insel rumpeln.

In der Hochsaison sind diese Züge voll belegt. Westerland, die Inselhauptstadt, ist dann vom Verkehr lahmgelegt. Im Sommer erhalten die rund 27 000 Einwohner Besuch von über 800 000 Touristen, die sich dann auf der Friedrichstraße, der Hauptstraße, tummeln.

Doch jetzt sind wir auf unserer Einstock-Einheit fast allein. Wer von den Einheimischen kann, verlässt im Januar die Insel. Besucher gibt es so gut wie keine.

Dass es in diesem Jahr noch weniger Gäste als üblich sind, verwundert kaum, angesichts der miserablen Wetterprognosen. Ein Sturmtief ist angesagt, Schneeverwehungen und zweistellige Minustemperaturen. Schlechte Voraussetzungen für einen Strandspaziergang.

Tatsächlich gibt es in den ersten Tagen kaum einen Anlass, die Wohnung zu verlassen. Viele Restaurants oder Kneipen sind geschlossen, Ladeninhaber machen Inventur oder sind auf Urlaub in der Südsee. Im dichten Schneetreiben sieht man gelegentlich die Scheinwerfer eines Fahrzeugs, und nach Einbruch der Dunkelheit hört man nur noch das Rauschen der nahen Brandung. Im Dorfhotel, einer Anlage mit 160 Ferienwohnungen, brennt ein einsames Licht. Die Fährverbindungen zu den Nachbarinseln sind weitgehend eingestellt, und kein Einheimischer kann sich erinnern, jemals so viel und so lange Schnee auf der Insel gesehen zu haben. Selbst das Wattenmeer ist zugefroren und erinnert mit seinen aufgetürmten Eisschollen an Caspar David Friedrichs Gemälde »Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung)«.

So bleibt nur übrig, Bücher zu lesen oder selbst welche zu schreiben, was auf Sylt durchaus Tradition hat. In den zwanziger Jahren galt die Insel als ein bevorzugter Aufenthaltsort von Schriftstellern und Künstlern. Thomas Mann verbrachte hier seinen Urlaub, ebenso wie Stefan Zweig, Marlene Dietrich oder Robert Musil. Eine Dekade später war die schöngeistige Zeit allerdings schon wieder vorbei. Hermann Göring baute sich ein Ferienhaus in der Nähe von Kampen und in Rantum, an der schmalsten Stelle der Insel, eine riesige Kaserne. In den sechziger Jahren nahm die Boheme, oder was sich dafür hielt, die Sandstrände in Besitz. Brigitte Bardot und Gunter Sachs räkelten sich am Meer, der damalige Herausgeber von Konkret, Klaus Rainer Röhl, verbrachte zusammen mit Ulrike Meinhof hier seinen Urlaub. Heute gibt es den Autozug, das Dorfhotel und seit kurzem Billigflüge aus Münster, Nürnberg und Düsseldorf.

Seit einigen Jahren versucht Indra Wussow, die literarische Tradition auf der Insel wieder zu beleben. Sie vertreibt die »Sylt-Quelle«, ein Mineralwasser, das in gehobenen Hotels serviert wird. Zusätzlich betreibt die Unternehmerin den »Kunst:Raum« auf dem Gelände der »Sylt-Quelle« zu etablieren. Auf dem Fabrikgelände gastiert im Sommer das »Meerkabarett«, gleich nebenan, im oberen Stockwerk des Restaurants, finden regelmäßig Ausstellungen statt. Im Verwaltungsgebäude sind Apartments für Stipendiaten eingerichtet. Hier haben schon Feridun Zaimoglu, Terezía Mora, Jenny Erpenbeck und Norbert Niemann an ihren Texten gefeilt. Seinen Welterfolg »Die Vermessung der Welt« hat Daniel Kehlmann zum Teil hier geschrieben. Doch Indra Wussow denkt über den Inseldeich hinaus. Seit November 2008 hat die Stiftung eine Dependance in Johannesburg, Südafrika, das jozi art:lab, viele südafrikanische Künstler stellen ihre Werke in Indra Wussows Galerie aus.

Die Gästebucheinträge zeugen von der Mentalität vieler Sylter und Syltbesucher. Da finden sich viele aufgeregte Fragezeichen und Geistreiches wie: »Kunst kommt von Können, käme sie von Wollen, so würde sie Wulst heißen«, was bei Indra Wussow und ihrem Team mit seinem Faible für zeitgenössische Kunst immer wieder Kopfschütteln auslöst. Der Satz aus dem Gästebuch stammt übrigens von dem Maler Max Liebermann.

Im Januar öffnet die Galerie nur auf Anfrage, auch die weitläufige Jugendherberge, die sich ein paar Meter weiter in Görings ehemaligen Kasernen befindet, wird von niemandem aufgesucht.

Das Dorfhotel bietet die einzige Abwechslung weit und breit. Das hoteleigene Wellness-Center mit Schwimmbad und Sauna mit Blick aufs Wattenmeer ist ganzjährig geöffnet. Gelegentlich läuft man dort anderen Gästen über den Weg, zum Beispiel im Aquafitness-Kurs, bei dem beleibte Frauen und Männer mit quietschfarbenen Pool Noodles oder aufblasbaren Hanteln im Wasser a­lberne Verrenkungen machen zu ohrenbetäubend lauter Discomusik. Vielleicht denken die Betreiber, dass ihre Gäste schwerhörig sind, und vermutlich liegen sie nicht ganz falsch.

Wie kaum ein anderes Projekt auf der Insel war der Bau dieser Anlage umstritten. Fast jeder Einheimische erzählt hinter vorgehaltener Hand über Mauscheleien und Korruption, über den Ausverkauf der Insel an den Massentourismus, über kaufwütige Schwaben und Rheinländer, denen sowieso bald alles gehören wird, und über Lokalpolitiker, die davon profitieren würden. Aus Sorge, zu viele Gäste an die neue Konkurrenz in Rügen und Usedom zu verlieren, wurden nach der Wende zahlreiche Tourismusprojekte gefördert, was einen regelrechten Bauboom auslöste. Der exklusive Charakter der Insel ging damit für viele verloren.

Mittlerweile ist Kampen auf Sylt zum teuersten Immobilien­standort in Deutschland avanciert. Für Unmut sorgt vor allem der Umstand, dass viele Einheimische wegen den steigenden Mieten eine Wohnung auf dem Festland suchen müssen, um anschließend wieder auf die Insel zu pendeln. Diese wiederum wird mehr und mehr von Sportjacken tragenden älteren Ehepaaren im Partnerlook bevölkert, die sich dort ihre Zweit- oder Drittwohnung leisten, griesgrämig in den Gourmet-Restaurants sitzen oder am Strand verbissen Nordic Walking betreiben.

Immerhin gibt es nicht nur wohlhabende Rentner, sondern auch ein Arbeitsamt auf Sylt. Dort herrscht eine entspannte Atmosphäre, die Damen hinter den Schreibtischen lächeln jeden strahlend an, der sich hierhin verirrt, und servieren Kaffee. Ansonsten gießen sie ihre Blumen und tauschen Inselklatsch aus. Zum Beispiel über kriminelle Vorfälle auf der Insel. Davon kann Inez* ein Lied singen, denn sie arbeitet als Schöffin für das Gericht in Westerland und hat das Problem, dass sie den von ihr mitverurteilten Straftätern, die zum Teil auf dem Festland im Gefängnis saßen, wöchentlich auf der Friedrichstraße oder im einzigen Kino der Insel begegnet. Ein Mann wechselt jedes Mal die Straßenseite, wenn er sie erblickt, was Inez rührend findet.

Der Streit um die bedrohte Insel angesichts skrupelloser Geschäftsleute und gesichtloser Touristenmassen ist indes nicht neu. Bereits 1858 notierte der Schriftsteller Julius Rodenberg, »dass viele Menschen auf der Insel den Einfluss fürchten, den die Leichtigkeit des neuen Gelderwerbs und der Besuch der verderbten Stadtbewohner ausüben könnten«. Seitdem hat sich nicht viel verändert. Schließlich leben die meisten Sylter nicht schlecht vom Geschäft mit den Touristen, auch wenn sie gerne darüber schimpfen.

Vielleicht löst sich das Problem aber auch bald von allein. An der südlichen Küste, in Hörnum, werden jedes Jahr rund 50 Meter Land weggespült. In Rantum liegen Wattenmeer und Nordsee gerade mal 500 Meter auseinander. In wenigen Jahrzehnten, so haben Klimawissenschaftler errechnet, wird die Insel an dieser Stelle zweigeteilt sein. Und ein paar Jahrhunderte später vermutlich ganz im Meer versinken.

* Name von der Redaktion geändert.

© Tanja Dückers, Anton Landgraf, Januar-Februar 2010

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