Der große Frost – Obdachlosigkeit in Berlin (Berliner Zeitung, Dezember 2012)

veröffentlicht in Berliner Zeitung, Dezember 2012

Wenn die Temperaturen wieder sinken, werden Schlafplätze für Obdachlose in Berlin knapp

Der Winter 2012/13 wird noch sehr kalte Wochen parat haben. Um die vier Wochen Eis und Schnee, mit nächtlichen Temperaturen von zum Teil minus 20 Grad, werden anstehen. Helfer von Obdachlosenvereinen beunruhigt das. In Berlin fehlen derzeit laut der Obdachlosenhilfe DIE BRÜCKE e.V. noch rund 400 Notschlafplätze. Bei allen guten Ansätzen, die es bereits gebe, fordert auch  Werena Rosenke, die Stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAGW) „mehr adäquate Unterkünfte“. Im letzten Jahr verzeichneten die Notunterkünfte in Berlin durchschnittlich eine 115 prozentige Auslastung, waren also überbelegt. Doch mit Schlafplätzen allein ist es nicht getan. Manche Obdachlose lehnen diese Hilfsangebote ab, was Rosenke so erklärt: „Viele haben schlechte Erfahrungen gemacht oder sind mittlerweile psychisch sehr krank.“ Sie könnten nur direkt durch Sozialarbeiter und Ärzte erreicht werden, durch die sogenannte mobile Hilfe, die Kontakt aufnimmt und Decken für kalte Nächte bereitstellt. Wie viele Menschen in Berlin auf der Straße leben, ist nicht ganz klar. Genaue Zahlen werden nach wie vor nicht erhoben, was ein Skandal ist. Schätzungen von Hilfsorganisationen zufolge gibt es allein in Berlin 11.000 Obdach– und Wohnungslose. Im Sommer ist die Zahl höher als im Winter. Deutschlandweit sollen rund eine Viertelmillion Menschen obdach- oder wohnungslos sein. Ihre Lebenserwartung ist um 30 Jahre niedriger als die des durchschnittlichen Bundesdeutschen.

Seit 2008, seit dem Beginn der Finanzkrise, ist die Obdach- und Wohnungslosigkeit um satte zehn Prozent gestiegen. In den fünfzehn Jahren zuvor war sie rückläufig gewesen. Steigende Mieten, finanzielle Notlagen in Folge von Insolvenzen, nach Scheidungen, Krankheit, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder Gefängnis- oder Heimentlassungen, trieben seitdem wieder mehr Menschen in die Obdachlosigkeit. Zudem ist das Durchschnittsalter von Obdach- und Wohnungslosen rapide gesunken. In nur zehn Jahren sank es von 50 auf 38 Jahre. In Berlin gehen immer mehr Jugendliche in den Suppenküchen und Notunterkünften ein- und aus.  Das liegt daran, so vermuten die Helfer, dass Jugendliche nicht mehr bis zum Alter von 25 Jahren in den Einrichtungen der Jugendhilfe betreut werden, sondern nur noch bis 18. Die Jugendlichen sind oft sehr heruntergekommen, physisch und psychisch stark in Mitleidenschaft gezogen, wenn sie in den Wärmestuben auftauchen. Auf der anderen Seite gibt es ebenfalls einige Wohnungs- und Obdachlose, die Opfer von Altersarmut geworden sind.

Die Zahl der Obdachlosen ließe sich durchaus mit politischen Mitteln verringern. Christiane Pförtner ist Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft „Leben mit Obdachlosen“, einer Vereinigung von knapp 70 Initiativen, die Obdachlose unterstützen. Suppenküchen, Wärmestuben und Nachtcafés gehören dazu. Ihrer Meinung nach wird an den falschen Stellen gespart. Nicht nur fatalerweise gerade bei der Jugendhilfe, sondern zum Beispiel auch bei der Straßensozialarbeit. Viele Obdachlose trauen sich nicht, sich bei den Bezirksämtern zu melden, weil sie Angst haben, wegen ihrer Schulden ins Gefängnis zu kommen. Auch sind einige von ihnen psychisch krank und nicht in der Lage, behördliche Gänge zu absolvieren. Viele wissen einfach nicht, dass in Härtefallen einige Bezirksämter einen Mietschuldenteil übernehmen oder auch Ersatzdienste anbieten, um den Schuldenberg abzutragen. Doch aufklärende Sozialarbeit auf der Straße kostet Geld und setzt gut ausgebildetes Personal voraus. Es muss auch mehr präventive Hilfe angeboten werden: Die Kommunen müssten „bereits vor dem Wohnungsverlust ansetzen. Das ist viel humaner und am Ende auch günstiger als die Nothilfe“, erklärt Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft. Bei Räumungsklagen müsste der Hinweis auf die Betroffenen von den Gerichten schnell genug an eine Fachabteilung gegen Obdachlosigkeit vermittelt werden. Doch solch eine Fachabteilung gibt es nicht. Räumungsklagen wegen nicht gezahlter Miete sind der häufigste Grund für Obdachlosigkeit in Deutschland. Und er trifft viele Menschen, die sich nie hätten vorstellen können, selber einmal obdach- oder wohnungslos sein zu können. Reformbedürftig ist nach Rosenke auch die Sozialgesetzgebung: „Zu viele Menschen kommen mit dem Regelsatz nicht aus. Das Ziel muss sein, dass die Sozialhilfe die Grundversorgung sichert und Menschen nicht auf Almosen angewiesen sind.“ Außerdem fordert Rosenke mehr sozialen Wohnungsbau. Denn schon jetzt prognostiziert die BAGW rund 30.000 weitere Wohnungslose bis 2015.

Ein weiteres Problem besteht in der Vertreibung der Obdachlosen von öffentlichen Plätzen. Die Hauptstadt soll in ihren inneren Bezirken immer mehr zur „Freizeitanlage und Kulissenlandschaft“ umgemodelt werden, so Lars Kreye schon vor Jahren in der Stadtzeitung Scheinschlag: „Innenstädte gelten als Visitenkarte der Städte, die vorrangig von den Interessen des Einzelhandels geprägt werden, und der Einzelhandel wünscht sich vor allem den ungestörten Konsum. Dieser Trend lässt sich auch an vielen Bahnhöfen beobachten, die nach den Umbaumaßnahmen der letzten Jahre zu Einkaufszentren mit Schienenanschluss geworden sind.“ Doch gerade Obdachlose brauchen Öffentlichkeit, erläutert Christiane Pförtner. Wer in Verstecken lebt, ist schutzloser, bleibt unbemerkt bei Krankheit und Kälte. Öffentlichkeit bedeutet unter Anderem Schutz vor Gewalt. Gewalt gegen Obdachlose – auch unter ihnen selbst, besonders wenn Alkohol im Spiel ist – ist sehr weit verbreitet. Not kann eher bemerkt, Hilfe eher geleistet werden, wenn Obdachlose nicht in menschenleere Gegenden abgeschoben werden.

Im vorvergangenen Winter sind in Deutschland 17 Menschen erfroren, drei davon in Berlin. Wie es 2011/12 aussah, ist nicht bekannt: Das Berliner Polizeipräsidium gibt dazu keine Informationen mehr heraus, seit sich bei einer Obduktion herausgestellt hatte, dass ein Mann irrtümlich als Erfrorener in die Statistik eingegangen war. Doch wie hoch die Zahl der Kältetoten auch immer liegen mag: Muss es sein, dass in unserer Wohlstandsgesellschaft – Deutschland belegt beim Human Development Index Platz 9 von 194 Ländern – in jedem Winter Menschen erfrieren? _______________________________________________

Tanja Dückers organisiert einmal jährlich eine Benefiz-Lesenacht mit Musik in der Soda-Lounge (Kulturbrauerei), deren Einnahmen verschiedenen Berliner Obdachloseninitiativen zugute kommen. Im Rahmen der Benefiz-Lesenächte sind schon viele bekannte Berliner Autoren wie Katja Lange-Müller, Jens Sparschuh, Annett Gröschner, Judith Hermann, Jan Peter Bremer, Maria Cecilia Barbetta, Kathrin Röggla, Terezía Mora, Elke Schmitter, Clemens Meyer, Jochen Schmidt, Jakob Hein, Maike Wetzel, Uljana Wolf, Steffen Popp und Andere aufgetreten.

© Tanja Dückers,  im Dezember 2012

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