Das Primat über die Politik zurückerobern

ZEIT Online, 8. April 2009

Das kommende Jahr wird schwierig, heißt es. Deshalb können die Bürger ihre Geschicke nicht mehr nur Politikern und Wirtschaftsexperten überlassen

Kaum ein Tag ohne neue Hiobsbotschaften: Firmenpleiten, Massenentlassungen – jede Prognose eines Wirtschaftsinstituts übertrifft die zuvor bereits verkündeten düsteren Prophezeiungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht schon seit Wochen davon, dass sich die Bürger auf schwierige Zeiten einrichten müssen. Wir befinden uns in der größten Wirtschaftskrise seit 70 Jahren. Ganz zu schweigen von der Klimakatastrophe und dem internationalen Terrorismus – Probleme, die keine Schonfrist gewähren, nur weil die Aktienkurse gerade fallen. Alles spricht dafür: 2009 wird ein Schreckensjahr.

Aber es scheint auch, dass sich derzeit einige überfällige Korrekturen unseres wirtschaftspolitischen Lebens anbahnen. Und das macht in der Tat Hoffnung. Es mehren sich die Anzeichen einer stärkeren Einmischung des Bürgers in die staats- und wirtschaftspolitischen Geschicke des Landes; vorsichtig kann man von einer Renaissance des Politischen, von einer Rückkehr des sozialpolitischen Engagements sprechen – nach einer Epoche der ego- und neoliberalen Inflation, in der derjenige, der die Selbstregulativkräfte des Marktes anzweifelte, schon als Häresist dastand.

Die Lehre von der wundersamen Selbstvermehrung des Geldes auf den Finanzmärkten erinnerte ein wenig an die katholische Lehre von der Jungfräulichkeit: Niemand versteht sie, aber alle müssen dran glauben.

Und nun stellte sich heraus, dass sich die selbsternannten Prediger dieser Seinslehre als völlige Nieten erwiesen. Kaum zu glauben, aber wahr: Die bisher größte Finanzpleite des 21. Jahrhunderts, das Kreditsystem des Fondsmanager und Ex-US-Börsenchefs Bernard Madoff, basiert auf einem banalen Trick, der an die Kettenbriefe aus der Schulzeit erinnert.

Das hat auch etwas Befreiendes. Es ist wie die Erkenntnis, dass der Kaiser tatsächlich keine Kleider trägt. Viele haben es vermutet, doch niemand hat gewagt, es auszusprechen. Vielleicht ist eine „Stunde Null“ des Respekts vor der Finanzwelt nötig gewesen, um ihre übermäßige Macht über Leib und Leben von Millionen Menschen wieder auf ein vertretbares Maß zurechtzustutzen. Und dieses Ziel wird im Moment von vielen Seiten formuliert, nicht nur von konkret betroffenen Arbeitnehmern, sondern auch von Politikern und von Wirtschaftsvertretern, die nun die existenzielle Verantwortung für das Wohlergehen sehr vieler Bürger doch lieber auf verschiedenen Schultern ruhen wissen wollen.

Zu lange waren wir gewohnt, die globale wirtschaftspolitische Entwicklung als eine Art Naturgewalt zu betrachten, die nicht mehr menschlichen Regulatorien gehorcht. Der Kreislauf unserer Finanzströme hat zwar in der Tat eine irreal anmutende Beschleunigung und Verzweigung angenommen, dennoch handelt es sich um ein menschengemachtes Konstrukt, das auch, wie sich gerade zeigte, von Menschenhand sensibel getroffen werden kann. In der derzeitigen Demystifizierung der Finanzwelt, in der Rückbesinnung auf soziale Werte und die weniger profitorientierte, stärker auf das Allgemeinwohl ausgerichtete Verantwortung des Staates im Vergleich zu freien Unternehmen liegt eine große Erneuerungskraft nicht nur Deutschlands, sondern der westlichen Welt.

Wir befinden uns zweifellos in einer Talsohle, aber es ist kaum vorstellbar, dass Finanzvertreter in absehbarer Zeit jemals wieder ein derartiges Vertrauen – und damit ein unverantwortliches Maß an Handlungsspielraum – genießen werden wie in der vergangenen Dekade. Es besteht berechtigter Anlass zur Hoffnung, dass der omnipräsente Ego- und Neoliberalismus zugunsten eines modernen Gemeinschaftsdenkens im nächsten Jahr etwas eingedämmt werden wird.

Sozialistische Ideen, nicht alter, sondern neuer Prägung, sind derzeit von Politikern aller Couleur zu hören, es herrscht eine seltene Einigkeit. Auch ist hierzulande eine gesamtgesellschaftliche Debatte über Armut in Gang gekommen, wie es sie seit den neunziger Jahren, als Massenarbeitslosigkeit und Armut in den neuen Bundesländern und „Wendeverlierer West“ in Bezirken wie Berlin-Neukölln die Gemüter beschäftigten, nicht mehr gegeben hat. Europaweit macht eine junge Generation, von Frankreich bis Griechenland, auf eine wenngleich unbeholfen aggressive Art auf die Misere aufmerksam. Auch an ihr wird man nicht vorbeikommen.

Anlass für eine Renaissance der aktiven Einmischung der Bürger wird es im kommenden Jahr genug geben: Zahlreiche Landtagswahlen und die Bundestagswahl finden statt, im Mai feiert die Bundesrepublik ihr 60-jähriges Bestehen, im Herbst jährt sich der Mauerfall zum 20. Mal. Und schon in wenigen Wochen beginnt in den USA mit dem Amtsantritt von Barack Obama eine politische Zeitenwende. Gründe genug, jetzt endlich loszulegen. 2009 wird der Beginn einer wichtigen Zeit werden – einer Zeit, in der die Bürger versuchen werden, das Primat über die Politik wieder für sich zurückzuerobern.

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