Das Politische wird privat

Ein Bestseller rät, wir sollen unsere Kinder zum Erfolg drillen. Der Einzelne soll die Krisen meistern, die Politik zieht sich aus der Verantwortung.

In krisenhaften Zeiten kehren bestimmte Rituale immer wieder: Exzessive Beschäftigung mit der Vergangenheit – oft mit nostalgischem Ton – und die Suche nach dem Sündenbock. Jetzt wird gerade der Sündenbock für die mangelnde Bildung des Nachwuchses gesucht, die an allem schuld sein soll, was der Prosperität der Nation künftig im Wege stehen könnte. Neu ist der Blick ins Nest nicht: Schon die Babylonier schimpften über ihre ungeratene Nachhut. Wer mit der Gegenwart hadert, blickt voller Angst in die Zukunft – und auf die Generation, die diese gestalten wird. Die US-Amerikaner haben ein beträchtliches Haushaltsdefizit zu verzeichnen, einen internationalen Ansehensverlust durch die Kriege und sind enttäuscht über ihren zunächst so stürmisch gefeierten Präsidenten, der mit vielen seiner in Aussicht gestellten Reformen bislang an landesinternen Strukturen gescheitert ist oder zumindest stark eingeschränkt wurde.

Und schon hören die Amerikaner auf die Thesen der chinesisch stämmigenYale-Professorin Amy ChuaDie Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte ). Sie sind derart schrill und überzogen, dass sie nicht ernst genommen werden können. Chua droht ihrer eigenen Tochter, deren Plüschtier zu verbrennen, wenn sie nicht disziplinierter Klavier spielen würde. Die beiden Töchter müssen pro Tag vier Stunden üben. Denn am Verhältnis zur klassischen Musik, so Chua, zeige sich, ob eine Zivilisation überlebensfähig sei. Chuas Thesen sind so schlicht, dass sie sich mit einem Satz zusammenfassen lassen: Der wirtschaftliche Erfolg eines Landes hängt vom Drill im Kinderzimmer ab. Man möchte ironisch anfügen: Und wer dort zu viel mit seinen Kleinen kuschelt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Handelsbilanz irgendwann nicht mehr stimmt.

Seit den Ergebnissen der ersten Pisa-Studie kann auch in Deutschland keine Diskussion über Bildung ohne Hysterie geführt werden. Und seitDeutschland schafft sich ab von Thilo Sarazzin sind hierzulande viele Bürger vom nahenden Ende zumindest der deutschen Gesellschaft überzeugt. Kein Wunder also, dass die Thesen der Hardlinerin Chua auf Verständnis stoßen – so lobte Sarrazin kürzlich in einem Interview das strenge chinesische Bildungssystem und empfahl, „sich seine positiven Wirkungen anzusehen“.

Die Thesen sowohl bei Chua als auch bei Sarrazin sind von Angst dominiert: Während in den USA der Niedergang der eigenen Wirtschaftskraft durch die Konkurrenz aus Fernost befürchtet wird und im Kinderzimmer hochgerüstet werden soll, droht hier – in Deutschland – die Gefahr durch den demografischen Anstieg der „bildungsfernen Schichten“.

Den Thesen Chuas und Sarrazins (und schon zuvor vom greisen Schloss Salem-Schulleiter a.D. Bernhard Bueb mit seinem rohrstockartigen Lob der Disziplin – Eine Streitschrift ) ist gemein, dass sie nicht auf strukturelle Ursachen abzielen, sondern auf individuelles Fehlverhalten (von Kindern und deren Eltern) – und nur die Korrektur desselbigen, also mehr Disziplin, Zucht und Ordnung, kann den panikartig heraufbeschworenen Niedergang verhindern. Komisch nur, dass unter den erfolgreichsten Geschäftsmännern der Gegenwart – man denke an Bill Gates, Steve Jobs oder Mark Zuckerberg – sehr viele Studienversager und unangepasste Eigenbrötler zu finden sind.

Die Formel „Leistungsdruck schafft Leistung“ ist zu schlicht. Und die von Chua bewunderten Musikgenies der Klassik haben oft alles andere im Sinn gehabt als eine geradlinige Karriereplanung. Auch ist die These individuellen Versagens angesichts der desolaten Wirtschaftslage in den USA grotesk – als wäre die aktuelle Finanzkrise nicht ursächlich auf mangelnde Kontrolle der Banken zurückzuführen, sondern darauf, dass in den US-Kinderzimmern zu viel gespielt und zu wenig gelernt wird.

Ebenso merkwürdig ist die Ansicht, dass ausgerechnet in Deutschland der unterstellte fehlende Leistungswille bei den unteren sozialen Schichten ausschlaggebend für die existierenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme sei. Denn gerade Deutschland liefert das beste Beispiel, dass es nicht auf die Leistung, also den individuellen Willen, sondern den sozialen Status ankommt: Deutschland ist nach einer aktuellen OECD-Studie mit Lettland das Schlusslicht innerhalb der EU, was die sogenannte Schichttransparenz angeht. Damit ist die Durchlässigkeit sozialer Schichten, vor allem Aufstiegschancen für Menschen aus sogenannten niederen Schichten, gemeint.

Im Zuge der Brandtschen Sozialdemokratie in den frühen Siebzigern und der von ihm initiierten Bildungsreform konnten so viele jungen Menschen aus Nicht-Akademiker-Haushalten wie noch nie zuvor einen höheren Schulabschluss erlangen oder studieren. Mittlerweile ist das Niveau wieder auf dem der Sechziger Jahre angelangt. Das heißt, Ärzte stammen aus Arztfamilien, Arbeiter aus Arbeiterfamilien. Globalisierung, Mobilität, Internet – nichts hat der deutschen Klassengesellschaft wirklich etwas anhaben können.

In den Sechzigern hieß es „Das Private ist politisch!“ Damit war gemeint, dass nichts, was der Einzelne in seinem Alltag unternähme, ohne gesellschaftspolitische Bedeutung sei. Heute scheint es umgekehrt so, als ob sich die Politik immer mehr aus ihrem Verantwortungsbereich zurückzieht: Das Politische wird privatisiert. Ob Gelder für die Banken, die der Steuerzahler aufbringen muss, oder Verantwortung für die sogenannte Bildungsmisere, die die Eltern jetzt, Mutter wie Vater, am Wickeltisch übernehmen sollen: Nicht der Staat ist schuld, sondern der Bürger.

Früher wichen Regierungen gern auf außenpolitische Menetekel aus, um von innenpolitischen Problemen abzulenken, heute verweisen sie den Bürger auf sich selbst.

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