Arme Schüler schaffen es trotzdem nicht nach oben

Schüler mit schlechten Startchancen können zwar laut einer Studie später trotzdem erfolgreich sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass unser Schulsystem gerecht ist.

Die Befürworter des klassischen dreigliedrigen Schulsystems haben von unerwarteter Seite Rückenwind erhalten. Und zwar von einer Studie: „The Long-term Effects of School Quality on Labor Market Outcomes and Educational Attainment“ des am Londoner University College lehrenden Wissenschaftlers Christian Dustmann. ZEIT-Autor Martin Spiewak meint, darin eine berechtigte Rehabilitierungsgrundlage für das dreigliedrige Schulsystem zu sehen.

Gegenstand der Studie war, den langfristigen beruflichen Erfolg von Schülern mit unterschiedlichem Einschulungsalter (sechs oder sieben Jahre alt) zu untersuchen. Fast immer waren die Siebenjährigen ihren jüngeren Mitschülern in ihren Leistungen zunächst überlegen. Nach zehn Schuljahren hatten sich diese Unterschiede jedoch relativiert.

Im beruflichen Werdegang ebnete sich dann der einstige Vorsprung weitgehend ein. Die zentrale These des britischen Wissenschaftlers ist: Langfristig schaffen Talentierte doch noch ihren Weg nach oben. Oder, in den Worten Martin Spiewaks: „Ob ein Kind mit ähnlichen Begabungen nach der Grundschule auf ein Gymnasium oder eine Realschule wechselt, ist unerheblich – und zwar sowohl für seinen Bildungsabschluss wie auch für sein späteres Einkommen. Weil das deutsche Schulsystem vielfältige Möglichkeiten kennt, die eingeschlagene Schullaufbahn später zu korrigieren, setzt sich Begabung am Ende in der Regel durch“. Das ist aber nur Wunschdenken.

Die Herkunft spielt eine größere Rolle als das Alter

Zum einen können Unterschiede, die durch das Schuleinstiegsalter hervorgerufen werden, nicht ähnlich bewertet werden wie Unterschiede zwischen Kindern aus gebildeten und ungebildeten Elternhäusern. Denn die Herkunft spielt für die Art des Schulabschlusses und für die spätere Berufswahl in Deutschland eine besonders große Rolle. OECD-Studien belegen immer wieder: Nach wie vor bildet Deutschland gemeinsam mit Lettland das Schlusslicht in Europa in Hinsicht auf die sogenannte Schichttransparenz. Anders formuliert: In Deutschland stammen die meisten Abiturienten aus bildungsbürgerlichen Familien, Arbeiterkinder besuchen die Haupt- oder Realschule.

Die frühe Selektion lässt sich nicht einmal damit begründen, dass deutsche Schüler in den Pisa-Studien besonders gute Leistungen bringen. Pisa-Gewinner Finnland lässt alle Kinder bis einschließlich zur 9. Klasse gemeinsam unterrichten. Auch Spiewak schreibt: „Ob es jemand auf die höhere Schule schafft, hängt danach zu einem großen Teil von seinem Elternhaus und der Einstellung seiner Lehrer ab.“

Also doch nicht vom Talent – das eh eine in einer Studie schwer zu evaluierende Größe ist. Es liegt auf der Hand, dass Schüler ein Leistungsdefizit aufgrund von jüngerem Schuleintrittsalter leichter aufholen können als ein herkunftsspezifisches. Letzteres ist persönlichkeitsprägender. Ferner lässt sich das positive Ergebnis der Dustmann-Studie daraus ableiten, dass ein Altersunterschied für kleinere Kindern schwerer wiegt als für ältere. Für die 16- oder 17-Jährigen fällt ein Jahr Altersunterschied nicht mehr so ins Gewicht wie für die Sechs- oder Siebenjährigen.

Der zweite falsche Schluss ist, dass man Kindern dieses mühselige Aufholen auf dem zweiten Bildungsweg oder mittels (mehrfachem) Schulwechsel zumuten soll. Es ist zwar gut, dass es eine zweite Chance gibt, die das klassische dreigliedrige System mit Alternativen wie Fachoberschulen, beruflichen Gymnasien oder Berufskollegs offeriert. Doch warum nicht allen eine erste Chance geben? Es ist für ein Kind eine erniedrigende Erfahrung, zunächst aussortiert und auf eine Schule mit geringem gesellschaftlichen Prestige verwiesen zu werden, auf der es sich vielleicht auch noch langweilt.

Natürlich müssen Schüler ihren unterschiedlichen Lernniveaus entsprechend unterrichtet werden, um voranzukommen, aber da nur die wenigsten Schüler in allen Fächern brillieren, ist eine Gesamtschule, in der der eine Schüler in Mathematik und der andere in Sport oder Musik zu den Besseren gehört, die gerechteste Lösung.

Es ist überdies nicht zu bestreiten, dass Kinder großem Stress ausgesetzt sind, wenn sie die Schule und meist auch den Freundeskreis wechseln und sich auf neue Lehrer einzustellen müssen. Für einen gelungenen Wechsel ist viel Engagement der Eltern nötig, das gerade bei Haupt- und Realschülern oft nicht gegeben ist: Ein Teil der Schüler wird, Begabung hin oder her, auf der ihm zugewiesenen Schule bleiben. Diese Talentierten bleiben unentdeckt, auch von Herrn Dustmann.

Nein, diese Studie ist keine gute Rechtfertigung für die Beibehaltung des dreigliedrigen Schulsystems.

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