Zensuren? (Politisches Feuilleton, September 2018)

Zu Beginn des neuen Schuljahrs dürfen an einigen Schulen wieder Eltern darüber entscheiden, ob ihr Sprössling ein Ziffernzeugnis – eines mit klassischen Zensuren – erhalten soll oder ein Indikatorenzeugnis. Die Bildungspolitik wälzt somit einen Teil ihrer ureigenen Verantwortung ab. Zur Harmonie zwischen den Eltern an den Schulen hat diese Verantwortungsabgabe nicht geführt.

Doch die Bildungspolitiker sollten den Mut besitzen, sich gegen Ziffernnoten zum Beispiel für Drittklässler stark zu machen anstatt sich hinter den Eltern der Kinder zu verschanzen. Je länger die zum Teil verbissen geführte Debatte über den Sinn der Notenvergabe in der Grundschule anhält, desto deutlicher haben sich führende Pädagogen und Erziehungswissenschaftler für eine möglichst späte Einführung von Zensuren ausgesprochen.

Die Debatte, in den siebziger Jahren im Zuge der Bildungsreform angestoßen, gewann an Schärfe als Deutschland in der ersten Pisa-Studie nur mäßig abschnitt. In den erfolgreicheren skandinavischen Ländern wird bis zur achten Klasse auf Noten verzichtet. Ein Indikatorenzeugnis ist um die sechs Seiten lang und viel differenzierter als das übliche im wahrsten Sinne des Wortes einseitige Notenzeugnis. Es gibt Eltern und Kindern genauer Auskunft über den individuelleren Lernstand. Das Kind wird stärker in seinem gesamten Verhalten in der Schule und im Unterricht erfasst.

„Schüler brauchen keine Pauschalbewertungen, sondern differenzierte Rückmeldungen“, sagt der Grundschulpädagoge Brügelmann. Ähnlich deutlich äußert sich der renommierte Schweizer Kinderarzt Remo Largo, Autor von „Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen“.

Gegen Schulnoten spricht zudem, dass sie ihrem Objektivitätsanspruch nicht gerecht werden; die Vergabe erfolgt oft willkürlich. Die Journalistin Susanne Klein kommt in der Süddeutschen Zeitung zu dem Fazit: „ein Aspekt wird von Notenbefürwortern gern beiseitegeschoben: Noten sind nicht gerecht. Zensuren variieren je nach Bundesland, Schule, Lehrer, Unterrichtsqualität, Niveau der Lerngruppe und Eigenschaften der Schüler.“

In einer deutschlandweiten Studie wurden derselbe Deutschaufsatz und dieselbe Mathearbeit von verschiedenen Lehrern mit Noten von sehr gut bis mangelhaft beurteilt. Über 1000 Lehrer nahmen an der Studie teil.

„Noten werden relativ zu der beurteilten Gruppe und dem erteilten Unterricht gegeben. Es gibt jedoch keinen objektiven Maßstab, der einer bestimmten Kompetenz eine bestimmte Note zuordnet, beziehungsweise an dem sich die Schüler messen können (…). Noten haben daher keine inhaltliche Aussagekraft“, kritisiert auch die bayrische Grundschullehrerin Monika Czerny. Sie weist darauf hin, wie schwer Noten gerade bei jüngeren Kindern aufs Gemüt schlagen. Manche Kinder seien schon „im Alter von acht, neun Jahren so demoralisiert und demotiviert, dass sie sich und das Lernen aufgeben.“

 

Schülerinnen und Schüler wurden in Deutschland in den vergangenen Jahren mit vielen unausgegorenen Reformen geplagt, die zum Teil wieder rückgängig gemacht wurden. Das führt zu ängstlichem Klammern an Althergebrachten. Aber dass die Deutschen an einer 200 Jahre alten Bewertungsmethode aus einer demokratiefernen und kinderfeindlichen Zeit lieber nicht rühren wollen, erscheint etwas grotesk. Man mag sich nicht vorstellen, wie viele Tränen und wie viele Prügel zwei Jahrhunderte an schlechten Mathenoten nach sich gezogen haben. Es geht ja nicht um eine generelle Abschaffung von Ziffernnoten, sondern nur gemäß dem nordischen Modell um eine spätere Einführung derselbigen, so dass die Kinder gefestigter sind und mit solch plakativen Bewertungen, die eben doch als Bewertung der ganzen Person aufgefasst werden, besser umgehen können. Dazu sollte man sich nach jahrzehntelangen Diskussionen auch hierzulande durchringen können.

 

© Tanja Dückers, Berlin, im September 2018

 

 

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