Zeig mir das Land, wo die Tomaten siebzig sind. Sybille Lewitscharoffs Roman „Apostoloff“ (Jungle World, April 2009)

veröffentlicht in Jungle World, 23. April 2009

Rezension zu Sybille Lewitscharoffs „Apostoloff“

Wie schön, wenn man mal mit dem Ergebnis einer wichtigen Preisverleihung im Literaturbetrieb so richtig einverstanden sein kann: Sybille Lewitscharoff hat mit ihrem überaus schrägen, abgründigen und unversöhnlichen Roman „Apostoloff“ den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Während der jedes Jahr im Herbst verliehene Deutsche Buchpreis zunehmend einen (neo-)konservativen Bildungsbürgergeschmack zu bedienen und Adenauers Losung „Keine Experimente!“ über dem ganzen Preisgehabe zu schweben scheint, kürt man in Leipzig noch Autoren, die randständiges Terrain betreten und nicht massenkompatibel schreiben. Sybille Lewitscharoffs „Apostoloff“ ist alles andere als eine tragisch-schöne Familiengeschichte mit Vorabendserien-Tauglichkeit: Die Ich-Erzählerin ist eine notorisch schlecht gelaunte junge Frau, die sich mit ihrer Schwester und einem ihr nur mäßig sympathischen Fahrer auf eine Reise in die Heimat ihres Vaters, nach Bulgarien, macht. Dieser ist früh emigriert, die Töchter sind in Stuttgart-Degerloch aufgewachsen. Anlass der Reise ist nicht etwa ein später Versöhnungswunsch der beiden Töchter mit dem verrückt gewordenen Selbstmördervater, sondern die Idee eines wohlhabenden Exilbulgaren, seine ehemaligen Kumpel in heimatlichem Boden begraben zu lassen. Exhumierung und neue Beerdigung beschreibt die Protagonistin ohne große Gefühlsaufwallung: „Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, sondern nur ein gutmütig gepflegter Hass“.
Sehr gelungen beschreibt die Autorin wie ein düster und bedrohlich erlebter Vater seine Kinder auch noch als Erwachsene beunruhigen und verfolgen kann: Immer wieder taucht der Strick, mit dem sich der Vater in seiner Arztpraxis erhängt hat, in den Träumen der Ich-Erzählerin auf. Vor allem aber ist „Apostoloff“ eine gelungene Abrechnung mit all jenen Ostromantikern, die in jeder verrotteten Industrieanlage, in jedem megalomanen Staatsgebäude stalinscher Prägung und in jedem unerträglichen realsozialistischen Protzdenkmal einen zukünftigen Anwärter auf das UNESCO-Weltkulturerbe erblicken. Die Autorin, selbst halbe Bulgarin, schreibt schonungslos – wenngleich eher mit bitterem Humor als mit zornigem Pathos – über das ästhetisch wie menschlich auf den Hund gekommene, marode Land: „Wir fuhren an Industrieruinen vorbei. Kilometer über Kilometer zog sich eine katastrophale Landschaft hin aus halb zusammengebrochenen Gebäuden, zerworfenen Scheiben, durchwühlter Erde, Müllhalden, rostigen Kränen, sinnlos in die Höhe gereckten Baggerschaufeln, herumliegenden Maschinenteilen. Ungelogen: kilometerlang (…) Bedrückt und stumm fuhren wir in Sofia ein.“
An den Landstraßen stehen Prostituierte „fast jeden Alters“ vor „müllübersäten Böschungen“. Auch die bulgarische Gastronomie kommt nicht gut weg: „Aus einem verborgenen Winkel des Gebäudes trieb Rumen eine Bedienerin auf und bestellte Tee. Sie kam eine halbe Stunde später herangeschlurft, brachte lauwarmes Wasser und drei mumifizierte Kommunistenteebeutel auf einem schmierigen Tellerchen.“ Und: „Die Tomate, die in Menschenjahre umgerechnet schon weit über siebzig zählt (…).“
Spaziergänge in den größeren Städten sind bestenfalls soziologisch interessante Unternehmungen, das Wohlbefinden steigern sie nicht: „Offenbar haben beide Geschlechter nur jeweils einen Code zur Verfügung: Die Frauen signalisieren: wir sind Huren, die Männer: wir sind brutal.“ Die gesamtgesellschaftliche Verrohung spiegelt sich im familiären Mikrokosmos. So schreibt die Protagonistin, die unschwer als Alter ego der Autorin zu erkennen ist, über ihre Großeltern: „Als sein Ertauben voranschritt, sprach sie absichtlich leiser, damit er immer größere Mühe hatte,  sie zu verstehen.“
Immer wieder scheint die Vergangenheit in die Gegenwart hinein – „Hundert bulgarische Ammen reichen Stalin die Brust“ lautet der Titel eines Werks in der Nationalen Gemäldegalerie.
Lewitscharoff kritisiert die defizitäre Vergangenheitsbewältigung in Bulgarien – einem Land, das unter dem Zar Boris III. mit Hitler verbündet war – und verzeichnet eine kollektive Flucht ins Religiöse und Esoterische, bisweilen ins Phantastische:
„Es fehlen: die deutsche Wehrmacht und die SS.
Es fehlt: die russische Armee.
Es fehlt: die Zerstörung des Landes, der Städte und der Dörfer durch das Sowjetsystem.
Die letzten siebzig Jahre scheinen sich für phantastische Ausschmückungen wenig zu eignen.“
Nüchtern konstatiert die Autorin Vorfälle aus der jüngsten Zeit und lässt hier geschickt die Ereignisse für sich sprechen: „Abgeordnete verprügeln Verkehrsteilnehmer, die ihnen in die Quere kamen, auf offener Straße. Im Fernsehen durfte verkündet werden, Juden und Zigeuner seien zum Seifemachen gut. Augenärzte vergaßen bei Operationen die Nähte herauszunehmen, und niemand zog sie zur Verantwortung.“ Und auf den städtischen Friedhöfen stehen seit Neuestem lebensgroße Figuren mit steinernem Handy am Ohr.
Wer meint, Lewitscharoff würde in ihren Andeutungen von parteipolitischer Korruption und mafiösen Strukturen übertreiben, dem sei Ilja Trojanows „Die fingierte Revolution – Bulgarien, eine exemplarische Geschichte“ und dort das Kapitel „Der zweiarmige Bandit: Staat & Mafia“ ans Herz gelegt. Bulgarien befindet sich bestenfalls seit 19 Jahren in einem transitorischen Zustand, von einer Errichtung transparenter, rechtsstaatlicher Verhältnisse kann noch nicht die Rede sein.
Die Ich-Erzählerin unterzieht sich auf dieser Reise auch einer Selbstbefragung in Bezug auf die eigene kommunistische Vergangenheit: „Wie war’s möglich, dem Brechttheater mit seiner öden Typenwirtschaft zu verfallen? Was sollten diese blumigen, idiotischen Mao-Texte? Und wieso Trotzki? Wegen des Eispickels? Als Gegenspieler von Stalin? Oder weil ich, wie die meisten Linkserregten damals, auf der Suche nach einem jüdischen Adoptivvater war und Adorno nicht verstand?“
Doch Sybille Lewitscharoff macht sich nicht lustig über ihre Figuren. Allein die Wahl des Romantitels, der mit ihrem eigenen Namen so viele lautliche Gemeinsamkeiten aufweist, ist Hinweis auf ein „Mitgefangen Mitgehangen“ – auf eine stille Inklusion des Selbst, oder zumindest: einem ausgeprägten Bewusststein über die Nahdistanz zum Sujet des Romans. Manchmal wird die Erzählerin auch gnädig – so bei der Einfahrt in ein Dorf: „Obwohl ich mir vorgenommen hatte, Veliko Tarovo übel zu finden, ist es nicht ganz so übel wie gedacht.“ Und, an anderer Stelle, als ihr die Stadt Plovdiv Eindruck macht: „Ich wüsste gern mehr über das Vielvölkergemisch, das Plovdiv einst besiedelt hat.“
Auch die heimische Beethovenstraße, in der die Schwester der Protagonistin samt Familie wohnt, kommt nicht unbedingt besser bei weg als der Sofioter Stadtteil Mladost. So ein Roman ist doch etwas anderes als die derzeit ubiquitäre Verbreitung findende regionalistische Erinnerungsprosa mit all ihren literarisch verbrämten Heimatsbeschwörungen.
Neben der kritischen Beschäftigung mit dem postsowjetischen Bulgarien, das sich zurzeit nur über das „post-“ definiert, aber noch nirgendwo angekommen ist, begeistert Lewitscharoffs phantasievoll-präzise Sprache: Ob ein Alkoholisierter ein Gesicht „wie ein Euter“ hat oder die Erzählerin in einer schicken Villa an „goldene Kakerlaken“ und „Ratten mit vergoldetem Schwanz“ denken muss: Lewitscharoffs Sprache wartet immer mit eigensinnigen Überraschungen, neuen Bildern auf. „Apostoloff“ ist erfrischend unkonventionell und kompromisslos.

© Tanja Dückers, April 2009

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