Unsere Auto-Libido (ZEIT Online, Februar 2016)

Revolutionäre brauchen heute vor allem eines: Geduld: Es ist frustrierend, wie lange es oft dauert, bis progressive Gedanken auch nur ansatzweise ihren Niederschlag in der Realität finden. In Sachen Ökologie und Stadt sind den Pionieren der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts längst graue, nein weiße Bärte gewachsen. Denn seit den „autofreien Sonntagen“ der frühen 70ern hat sich erschreckend wenig in Richtung „Eindämmung des Autoverkehrs“ getan. Die autofreien Sonntage wurden während der erste Ölkrise verordnet, um Treibstoff zu sparen. Mit dem Energiesicherungsgesetz vom 9. November 1973 wurden zunächst vier autofreie Sonntage sowie Tempolimits verhängt. Lediglich Taxis, Rettungswagen, Ärzte, die Polizei, die Feuerwehr sowie Frischware-Lieferanten durften fahren. Am vierten „autofreien Sonntag“ gab es allerdings schon so viele Ausnahmen, dass es zu Staus auf den Straßen kam.

 

Als ich ein Kind war, erlebte ich diese „autofreien Sonntage“. Staunend liefen wir (West-)Berliner durch den uns auf einmal als Fußgängern zur Verfügung stehenden Raum. Man hastete nicht länger an der elterlichen Hand von Termin zu Termin, sondern man flanierte, prominierte, stolzierte. Der Blick auf die kontrastreiche Architektur Berlins war anders, man schaute auf einmal wieder in den Himmel. Die temporäre Rückeroberung des Raumes fühlte sich fremdartig, neu und verdammt gut an. Auch wenn es nur wenige Stunden waren, so kam doch ein anderes Lebensgefühl auf. Dabei sind die dem Autoverkehr geschuldeten Infrastrukturen, die wir heute für geradezu naturgegeben halten, nicht einmal hundert Jahre alt. 1924 leuchtete bekanntlich am Potsdamer Platz die erste Ampel Europas, den ersten Zebrastreifen gab es 1952. Treffend postuliert der Sozialwissenschaftler Harald Welzer in seinem Essay „Wohlstand ohne Wachstum“: „Die Eindringtiefe des Autos in unsere mentalen Landkarten lässt sich etwa daran ermessen, dass man (…) 4.000 Verkehrstote für gering oder den Landschaftsverbrauch durch Straßen für gerechtfertigt [hält] – wenn es dem Verkehrsfluss dient, darf’s gern noch eine Spur mehr sein (…).“

 

Bald gab es natürlich auch keinen autofreien Sonntag mehr. Vorschläge für Tempolimits, wie sie die Grünen seit Jahrzehnten beharrlich anbringen, werden immer wieder vom Tisch gefegt. Und der Autoverkehr hat enorm zugenommen. Das lag nicht in erster Linie an der Wende, als Millionen von Ostdeutschen ihren Trabant auf den Müllhaufen der Geschichte warfen. 1950 gab es zwei Millionen motorisierte Fahrzeuge in Deutschland, davon waren mehr als die Hälfte Motorräder. Anfang der 70er Jahre waren es 22 Millionen, heute sind es 50 Millionen.

Unsere Städte sind utopielos geworden. Das Leben in ihnen ist um den Autoverkehr drumherum organisiert. Straßen, Kreuzungen, Parkplätze sind neben Gebäuden die zentralen Elemente. Es fehlt der nicht-zweck- und zielorientierte Raum, der nicht immer schon eine Richtung vorgibt. Jeder Park, für den sich eine Bürgerinitiative einsetzt, wird misstrauisch beäugt, es könnte ja einer zuviel sein. Lärm- und Feinstaubbelästigung, eingeschränkte Bewegungsfreiheit für Kinder, all das nehmen wir achselzuckend in Kauf.

 

Warum hängen wir derart am Auto? Es kann hierbei nicht ausschließlich um ökonomische Notwendigkeit gehen, denn sonst wären rationalere Debatten möglich. Offenbar ist auch die empfindliche deutsche Seele betroffen. Wir erleben Hysterien um Viren, an denen in Deutschland weniger Menschen in Jahren versterben als im Straßenverkehr in einer einzigen Woche. Das Auto aber ist ein identitätsstiftendes Produkt für die Deutschen, deshalb die große, libidinöse Anhänglichkeit.

Zugleich geht es auch um ökonomische Aspekte. Von der Automobilindustrie hängen Millionen Arbeitsplätze ab. Kein Produkt wird gleichermaßen umworben, es steht für alles, was uns gut und teuer ist: Status, Spaß und Erfolg. Kein Wunder also, dass die Automobilindustrie hierzulande als Schlüsselbranche gilt. Und es überrascht nicht, wenn Probleme dieser Branche von Opel bis Volkswagen bis hin nun zu BMW und Daimler Benz stets als eine Art nationaler Notstand wahrgenommen werden.

Die Sorge um Tausende Arbeitsplätze ist verständlich, aber das eigentliche Problem hieß nie Volkswagen oder Opel, es ist grundlegender und ist in dem Wirtschaftsmodell der Nachkriegszeit zu suchen, das nicht zufällig nach einem Autohersteller benannt wurde. Der Fordismus – der Begriff entstand nach dem ersten Weltkrieg und leitet sich vom Namen des legendären Unternehmers Henry Ford ab – verband Massenproduktion mit massenhaftem Konsum. Die Rechnung schien so einfach wie effizient: Durch das Fließband wurde die Arbeit eintöniger, die Fahrzeuge billiger und die Löhne höher. Die Methode wurde in den vergangenen Jahrzehnten vielfach modifiziert, doch das Prinzip beibehalten. Vor allem die Mittelschicht profitierte davon, die in Deutschland ein regelrechtes Wirtschaftswunder erlebte.

Das System hatte jedoch einen Fehler. Was in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg noch wunderbar funktionierte, geriet später in eine fundamentale Krise. Denn seit geraumer Zeit steigt die Produktivität schneller als die Nachfrage, und für die Produktion werden immer weniger Arbeitskräfte benötigt. Früher einmal bedeutete Massenproduktion: „von den Massen für die Massen produziert“ , heute steht sie für: „von Wenigen für die Massen produziert“. Diese Entwicklung wurde in den vergangenen Jahren noch zusätzlich verschärft, da die Reallöhne der Mittelschicht stagnierten, oder, wie in Deutschland, sogar zurückgingen. Die Einkommen drifteten insgesamt immer stärker auseinander, ein kleinerer Kreis von Reichen konnte den daraus resultierenden Nachfragerückgang nicht mehr ausgleichen. Damit dieses System tragfähig bleibt, muss weiter produziert, konsumiert, verbraucht und entsorgt werden, auch wenn die Krise des Fordismus seit Langem offenkundig ist und die Folgen der mit ihm verbundenen Wirtschaftsweise zu ökologischen und ökonomischen Krisen führen wie der nicht wirklich überwundenen Wirtschaftskrise von 2008.

Die Debatte über die Zukunft des Autos wird also nur halbherzig geführt, weil sie einen neuralgischen Punkt der deutschen Wirtschaft und der deutschen Seele betrifft. Und offenbar ist nicht vorstellbar, dass es auch „anders“ gehen könnte. Dabei ist es erst gut 30 Jahre her, dass die Schlüsselbranchen Deutschlands Kohle und Stahl hießen – heute ist die Kohleförderung ein höchst verlustreich gepäppelter Subventionsfall.

 

Das Elektro-Auto, nach Welzer der „vielleicht dümmste Zukunftsentwurf“, wird die Probleme auch nicht lösen. Denn hier wird ein Energieproblem nicht gelöst, sondern nur verlagert. Auch zeige sich in dieser Idee nur der begrenzte Horizont moderner Gesellschaften. Denn ihr utopisches Credo laute: Wie jetzt, nur besser! Dabei sei das Problem nicht ein spezifischer Typ von Antrieb zur Verwirklichung von Mobilitätsvorstellungen, sondern das Konzept von Mobilität, dem die Bewohner moderner Gesellschaften huldigen. Nicht nur sie selbst halten es offenbar für sinnvoll und normal, ausgerechnet in Zeiten ungeahnter und weltumspannender Kommunikationsmöglichkeiten pausenlos unterwegs zu sein, sie senden auch ihre Waren und Güter auf unendliche Reisen.

Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Utopie wird als Verlängerung der Gegenwart mit ähnlichen, aber optimierten Mitteln gedacht, nicht als etwas grundsätzlich Neues. Dabei müssten dringend andere Fragen gestellt werden. Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, der langsam, aber sicher die fordistisch bestimmte Arbeit ausgeht? Eine Arbeitsweise, die sich wohlgemerkt selbst ad absurdum führt? Welche Schlüsselbranchen wollen und brauchen wir künftig? Wie und wo wollen wir produzieren? Neue Ansätze gibt es genug, wie beispielsweise die Debatte über das Grundeinkommen zeigt, aber sie werden meist für „utopisch“ gehalten und klein geredet.

Und wie wollen wir unsere Städte, unseren Lebensraum eigentlich gestalten? Wollen wir weiter akzeptieren, dass jeder Deutsche mindestens einen Menschen persönlich kennt, der im Straßenverkehr getötet wurde?

 

Es gibt, wie zahlreiche Initiativen bezeugen, zwar eine Rückbesinnung auf den öffentlichen Raum als ein Areal, das jedem Bürger kostenfrei zur Verfügung steht und nicht in erster Linie vom Verkehr dominiert ist. Aber die meisten Städte sind noch meilenweit von solch einer Neuausrichtung entfernt. Es wird noch dauern, bis sie nicht nur in der Zeitung und im Internet zu finden ist, sondern auch draußen, auf der (ehemaligen) Straße, erfahrbar wird.

 

Ich bin gespannt, ob ich nochmal so wie als Kind am „autofreien Sonntag“ in Berlin herumspazieren und mich wundern werde.

 

 

 

© Tanja Dückers, Berlin, im Februar 2016

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