Eintragung ins Nichts. Eine Ausstellung in Berlin zur Street & Urban Art

Jungle World, 27. August 2003

Jungs und Mädchen mit Baggy Pants und Aufdruck-T-Shirts, Schirmmützen und dicken Tretern, grünem Ziegenbart, pinken Pferdeschwanz, Durchschnittsalter 20 – wann hat man bei einer Vernissage in einem etablierten Austtellungsforum schon mal solche Leute gesehen? Im Bethanien tummelten sich bei der Eröffnung Hunderte von Kids, die man sonst eher in Clubs oder auf Skateboards mit Spraydose in der Hand antrifft. Zu sehen gibts wirklich was: Urbane Kunst verschiedenster Coleur: Sticker- und Paint Art, Writing, Kalligraphie, Video, interdisziplinäre Arbeiten, die Hip Hop-Elemente mit darstellender Kunst kombinieren, Aerosol Kultur – das, was der Nicht-Insider gemeinhin als Graffiti bezeichnet – werden im Bethanien ausgestellt bzw. vorgeführt. Parallel dazu findet Vorträge statt, z.B. von Naomi Klein (Visual Kidnapping) oder Diedrich Diedrichsen (Popkultur). Doch nicht nur das Bethanien, auch der Stadtraum selbst fungiert als Galerie: An U-Bahnhöfen, Bürgersteigen, Brandmauern etc. sind Beispiele der Spray Can Art, Stencil Art, Papercut, Paint Art, Sticker-Collagen und 3D-Objekte zu bewundern – nicht umsonst heißt der Titel des Gesamtprojekts „The Live Issue“.

Ausgangspunkt für diese unterschiedlichen Arbeiten ist das internationale Netzwerk von Künstlern und Aktivisten um das Magazin „Backjumps“. 1994 von Adrian Nabi in Berlin als nicht-kommerzielles Aerosol-Mag gegründet, stellt „Backjumps“ ein buntes Nischenblatt für die Gemeinde der Sprüher, Sticker, Painter, Cutter und ihrer Fans dar. Der emsigen Talent-Rekrutierung von „Backjumps“ verdankt die Ausstellung alles: Da gibt es kompositorisch sehr beeindruckende Riesenwandbeklebungen von Ash aus Kopenhagen. Zwischen silbernen und blauen tubenartigen Formen erkennt man gelegentlich tierisch-organische Elemente: „Monkey in the City“ ist der sprechende Titel der Arbeit. MaisonAnti aus Berlin erstaunen den Besucher mit ihrer Fähigkeit, aus nicht mehr als einigen breiten schwarzen Klebestreifen übergroße, filmhafte Diven auf die Wand zu setzen. Großartig sind die verzerrt-unheimlichen Gestalten von WK Interact aus New York. Im Bethanien sind viele Fotos ihrer überall in New York auftauchenden geisterhaften Wesen zu bestaunen. Das Thema der schleichenden Okkupation von Raum, der Markierung von Territorien, scheint viele der Street & Urban Artists zu beschäftigen: Akay + Adams haben in letzter Zeit das Stockholmer Stadtbild mit ihren markanten Postern und Stickern wie eine omnipräsente Krankheit befallen. Bezeichnenderweise nennt einer der Verantwortlichen dieser Invasion sein Tun „Bacteriaproject“. In einem Interview erläutert Akay, daß er sich noch spektakulärere Aktionen vorstellen könnte: „(…) Es könnte eine Soundinstallation mit versteckten Kassettenrecordern oder U-Bahnstationen mit Botschaften sein. Alles ist möglich“. Weg von der Spray Can und hin zu Postern und anderen Medien kamen die beiden aufgrund der Probleme, im urbanen Raum, z. B. in einer großen Menschenmenge, mit Dosen zu arbeiten: „Nach all den Jahren sind Sprühdosen etwas Schlechtes in den Augen der Leute. Es wurde ihnen beigebracht, sie nicht zu mögen. Sobald du ein anderes Medium benutzt, sind die nicht mehr so aggressiv.“

Insgesamt läßt sich aus der Ausstellung und vielen Einzelpräsentationen in der Stadt der Eindruck einer starken Ästhetisierung der Szene gewinnen. Das Statement von Akay + Adams ist nicht untypisch: Man will nicht unbedingt die Öffentlichkeit gegen sich aufbringen, Gangster spielen ist nicht mehr angesagt. Man versucht, auf einer reflektierteren Ebene als noch vor zehn Jahren – wie evident im „Bacteriaproject“ – Statements zu machen und den Kunstbetrieb ironisch zu umgehen bzw. zu unterlaufen. Es hat eine Art von Intellektualisierung und Ästhetisierung der früher eher mit dem Rowdy-Image belegten Kunst-Sparte(n) stattgefunden; Baudrillard- und Virilio-Kenntnisse lassen sich leicht aus einigen Interviews in „Backjumps“ filtrieren. Statt sich als Street Gangster zu bezeichnen, nennt man sich viel nüchterner „Graffitiforscher“: Flaneure aller Altersgruppen werden von Nalk Ivique und Jo Irrläufer geladen, mit ihnen eine Führung durch die Stadt zu machen. Erläutert werden anhand diverser Beispiele im öffentlichen Raum „exemplarische Kostbarkeiten der scheinbar ‚leeren Signifkanten‘ aus Sprühlack, Scriptol und Straßenmalkreide. Im Blickpunkt stehen Tag-Techniken, Bomber-Biographien und Cross-Kriege ebenso wie die graphologischen, psychologischen und kulturgeschichtlichen Verweise, welche als Sachbeschädigungen von Mauern, Stromkästen und Hausdächern zu uns sprechen. Auf dem Hauptstraßen und Trampelpfaden von Spray-Athen spüren wir den romantischen bis dramatischen Geschichten und Mythen der Graffiti und ihrer Schöpfer nach. Die Führung lauscht vergangenen Zeichen zwischen Architektur und Werbetafeln hinterher und richten den Blick auf die Vergänglichkeit illegaler Artefakte (…). Wie der Flaneur des 19. Jahrhunderts schweifen wir durch die Straßen und entlocken der urabenen Schriftdecke collagenartig einen Sinn.“ Ort: Sonntag, 7. September, 15 Uhr, Bethanien, Vorkenntnisse nicht nötig, aber bitte Cans und Klebeband (doppelseitig) mitbringen.

Auch werden Workshops für Anfänger in den Disziplinen „Flow“, „Move“, „Typo“, „Connection“, „Rhythm“, „Battle Disciplines“ und „Hard training“ von einem Lehrer namens „Nomad“ angeboten. Drei Termine je 90 Minuten.

Vielleicht lassen sich zur Zeit zwei Hauptrichtigen der Street & Urban Art klassifizieren: Die Arbeiten, die vornehmlich darauf abzielen, „coole“, ästhetische, sich selbst und der eigenen Gang/Szene genügende Bilder etc. zu entwerfen (wobei die Imagos langbeiniger, dünner Frauen nicht gerade das Frauenbild revolutionieren sowie überhaupt Medienklischees eher bestätigt, bestenfalls in Warhol-Manier nüchtern kopiert, nicht aber transformiert werden). Sie besitzen oft eine hohe gestalterische Qualität, gehen sehr souverän mit den Gegebenheiten des jeweiligen Raums/Orts um, sind aber letztendlich doch dem Kunsthandwerk bzw. den dekorativen Künsten zuzurechnen – und auf der anderen Seite Arbeiten wie das „Bacteriaproject“ oder „You are under Surveillance“ (Ausschnitt eines Raum-Projekts von Shepard Fairey/Los Angeles), die Fragen nach unsichtbarer Macht, nach Kontrollmechanismen und –apparaten stellen und sicherlich für das 21. Jahrhundert spannende und wichtige künstlerische Entwürfe darstellen. Delta/Inc. geben bezeichnenderweise in einem Kurz-Interview (im Katalog) auf die Frage nach den Inspirationen für ihre Arbeit die Antwort: „Überwucherung, Unkontrollierbares, von Menschen geschaffenes Chaos.“ Das geht weit über die Erstellung eines trendigen Pieces hinaus.

Vielleicht am Beeindruckensten ist die Raum-Installation „Sunday Morning“ von Machine aus Amsterdam: Der Besucher betritt einen Raum, in dessen Mitte ein gedeckter, etwas bieder wirkender Holztisch steht. In der Mitte eine Vase Gladiolen. Die Wände sind mit weiß-roter Spießertapete versehen. Wer jedoch näher herantritt, entdeckt, daß die „hübschen“ Muster auf den Tellern Soldatengräber, Gewehre und Helme darstellen. Und die vielen roten Kringeln und Kreisel an der Wand entpuppen sich als aus vielen winzigen Panzern, Pistolen und anderem Kriegsgerät zusammengesetzt – auch formal eine sehr überzeugende Arbeit.

Neben den erwähnten sind noch viele weitere Arbeiten zu sehen, LoKiss aus Paris wirft riesige Projektionen an die Wände – so verspielt und temporeich, das man kaum mit dem Erfassen der Bildinhalte kaum mitkommt – andere haben Rauminstallationen und 3D-Pieces geschaffen -. Das Schönste an der Ausstellung ist jedoch das Gästebuch des Bethanien: Statt der üblichen salbungsvollen Einträge wimmelt es von dicken Tags, manch Ausstellungsbesucher kniet sich eine halbe Stunde über das Buch, um sein eigenes kleines Kunstwerk zu Papier zu bringen. Es lohnt sich auch, den Katalog zu erstehen, der kein teurer, fettleibiger Wälzer ist, dafür aber zu jedem Künstler ein Kurzinterview enthält, in denen die Befragten oft überraschende Antworten geben: Beispiel „Woran arbeitest Du gerade?“ – Antwort Adams: „Zum Glück habe ich keine feste Arbeit, also: Arbeite ich an einer schwarzen Hängemattenjacke mit großen Innentaschen. Arbeite ich an einem Versicherungsbetrug für ein Velodrom-Fahrrad. Arbeite ich an einem Haus in einem Autotunnel. Arbeite ich an einem Do-It-Yourself-Baukasten zum Bewohnen von U-Bahn-Waggons.(…)“
Wenigstens ein bißchen Outlaw-Touch ist geblieben.

„Backjumps, The Live Issue“, im Bethanien

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