Spielzone

Roman
Aufbau Verlag, Berlin 1999

Klappentext: Spielzone

Berlin, Mitte der neunziger Jahre, eine Stadt zwischen Provinzialiät und Hauptstadtambitionen. In Neukölln und Prenzlauer Berg – genauer gesagt der Thomas- und der Sonnenburger Straße – treffen beide Welten aufeinander. Da sind zum Beispiel Elida und Jason, zwei Paradiesvögel in Neukölln, die in schrillen Siebziger-Jahre-Klamotten herumlaufen, in mehr oder minder seriösen Jobs Geld verdienen, meist aber nur Musik hören, in der Badewanne liegen und miteinander schlafen. Von den Nachbarn werden die beiden Traumtänzer neugierig-wohlwollend beobachtet, von einem biederen Angestellten sogar vom Dach einer Friedhofsgruft observiert. Das Paar wird zum Inbegriff der ungelebten Sehnsüchte der Leute ringsum. Von Neukölln in den Prenzlauer Berg zieht die junge Studentin Katharina. Im Osten der Stadt trifft sie auf alte Bewohner, die von den Zuzüglern genervt sind, auf biedere Frauenpärchen, die mit den überdrehten Party-Revoluzzern aus dem Westen nichts anfangen können und auf verrückte Gestalten wie Paul, der mit seiner Frau in einem kannibalistischen Akt verschmelzen will oder auf Bennie, der seinen in Formalin ruhenden Bruder nachts aus der Charité klaut. Ein Buch über Berliner Nischen- und Subkulturen.

Leseprobe: Spielzone

Laura

Wir sitzen beim Abendbrot. Leise läuft im Hintergrund eine Easy-Listening- Cassette, meine Mutter guckt mich schon wieder wütend  an: „Muß das sein, dieses Gedudel die ganze Zeit?“ Dann schaltet sie den Casettenrecorder aus, die Nachrichten an. Meine Eltern verfallen in diese typische Nachrichten-Hör-Körperhaltung,  Kopf zur Seite gelegt, Schultern schlaff nach vorne hängend, Bauch angespannt eingezogen. Irgendwas mit Rauchwolken über Indonesien, was interessiert mich das, eine Rauchwolke steigt aus unserem  Toaster auf. Sven legt mir lachend den verkohlten Toast auf den Holzteller. Ich schütte ihm zum Spaß etwas von meinem Kakao in seinen Tee, er schmiert mir Honig auf die Cervelat-Wurst. So geht das, bis meine Mutter mir, weil ich neben ihr sitze und nicht Sven, der ihr schräg gegenüber sitzt, eine scheuert. Ich stehe auf und knalle die Tür zu. Von wegen antiautoritäre Erziehung und Kinderladen und so weiter, immer wenn’s ernst wird, dann: back to the roots. Meine Eltern wollen Hannelore und Wolf genannt werden, nicht Mama und Papa, das finden sie zu altmodisch und auch nicht  gleichberechtigt, sie nennen uns ja auch nicht Sohnemann und Tochter, sondern Laura und Sven. Aber Ohrfeigen, das ist nicht altmodisch, nein.

Ich gehe in mein Zimmer, schmeiße meine neueste Easy-CD an und lege mich aufs Bett. Früher wäre ich nach einer Weile Grummeln zu  meiner Mutter gegangen, hätte mich beschwert, und irgendwie hätten wir uns wieder ausgesöhnt, aber das mache ich schon seit einer Weile nicht mehr. Mir fallen zu viele Widersprüche bei Hannelore und Wolf auf, als daß ich noch das Vertrauen für eines der früheren Klär-Gespräche hätte. Bestes Beispiel: Letztes Jahr Weihnachten. Hannelore und Wolf haben Sven und mir vorher erzählt, wir sollen nicht einfach phantasielos im Kaufhaus irgendein Geschenk kaufen, sondern lieber – jetzt das Zauberwort – „etwas Kreatives machen“. Nachher wurden unsere Collagen dann stillschweigend in den Müll  geschoben, die Geschenke anderer Leute wie Tee-Eier, Vasen oder blöde Kunstbände natürlich nicht.

Ich bleibe also einfach im Bett liegen und höre weiter Herb Alpert & The Tijuana Brass, ganz übles Easy-Listening-Geklimper.  Dann rufe ich Rike an, um mir ihre neuesten Geschichten über Pierre anzuhören, und meine Eltern lesen Zeitung. Noch während ich telefoniere, legt Hannelore mir eine Hand auf die Schulter. Ich muß mit  dir gleich mal kurz reden, bedeutet diese Geste.

Ich telefoniere sehr lange mit Rike. Sie ist gerade zum ersten Mal mit Pierre alleine verreist gewesen, das haben ihre Eltern  nach endlosen Krächen erlaubt, und jetzt nimmt sie die Pille und ist total happy, und ich höre mir zwei Stunden lang die Hymnen auf ihren Macker an. Hannelore wirft mir ab und zu einen stirnrunzelnden Blick zu, deutet mit einer Hand auf das Geschirr, das sie schon abgewaschen hat. Es muß noch abgetrocknet und weggeräumt werden, sie hat es aber, obwohl sie gerade nicht soviel zu tun  zu haben scheint, für mich stehengelassen, damit ich auch noch etwas zu tun habe.

Ich rede mit Bedacht am Telefon, da meine Mutter, ich sehe es an ihrer Körperhaltung, mir genau zuhört. Ich meckere mich mal  wieder über Jungs aus. Die Jungs in der achten Klasse kann man eben alle vergessen, und Igor, der schon in die zehnte geht, würdigt mich keines Blickes, obwohl ich mich auf dem Hof in der Raucherecke seit Wochen quasi neben ihm aufbaue. Ich sage zu Rike, und das sage ich gar nicht so leise, weil ich Mitleid immer gebrauchen kann, daß ich eine Depression hätte. Ich meine das ernst und bin froh zu sehen, daß Hannelore, als sie das hört, für einige Sekunden den Lappen in ihrer Hand still hält.

Langsam tut mir mein Ohr weh, Rike sagt, ihre Ohrmuschel hätte schon die Farbe ihrer Schamlippen, wir legen also auf. Ach, Rike hat es gut, die ist zwei Jahre älter als ich, sechzehn, wann bin ich bloß endlich sechzehn.

Ich presse mir einen O-Saft mit Hannelores neuer Maschine, einem schicken Chrom-Ding, und setze mich aufs Sofa. Auf dem Tisch  liegt einer von Hannelores kleinen sechseckigen bunten Memo-Block-Zetteln, die sie mir und Sven dreimal am Tag irgendwo hinlegt. Ich beuge mich vor und lese:

„Liebe Laura! Wollte eigentlich lieber mit dir darüber reden, nun also schriftlich: Ich habe in der Zeitung wieder von diesem Mann gelesen, der auf dem Thomas- Friedhof, da wo du dich nachts immer mit Rike und Bettina und den anderen zum Rauchen triffst, herumstrolcht und vermutlich eine Frau vergewaltigt hat. In der Zeitung, guck mal in den Tagespiegel von heute, steht mehr darüber. Ich finde es nicht gut + mache mir Sorgen, wenn ihr da immer hingeht, kann es nicht auch ein anderer Ort sein? Ich will dich nicht nerven, und ich weiß, du hörst so was nicht gerne von mir, aber ich mache mir einfach Sorgen – auch ob du zur Zeit glücklich bist, Laura-Schatz!? Deine H.“

Hach,  das hat sie mir doch schon letzte Woche erzählt, die  Story mit diesem Vergewaltiger. Warum soll ich mich  fürchten, wenn wir da zu viert sind? Außerdem finde ich, daß Hannelore sich mal fragen sollte, was sie so  treibt. Sven und ich haben uns echt Sorgen gemacht,  obwohl das eigentlich nicht so unsere Art ist, als sie und Wolf letztes Jahr Wildwasser-Kajak-Fahren in der Ukraine waren, ich meine, die beiden haben keine Ahnung  von Kajaks und von der Ukraine auch nicht. Und daß Hannelore sich jede Woche in Trance versetzen läßt, „Hypno-Therapie“ nennt man das, finde ich auch ziemlich suspekt.

Was  solls, nun habe ich mich gerade mit Rike für heute abend  auf dem Thomas-Friedhof verabredet, „das tut mir aber leid“.

Ich  stecke meine Taschenlampe und meinen Joint ein, nehme zur Tarnung noch das Trivial-Pursuit-Spiel mit, weil ich Hannelore und Wolf jetzt erzählen muß, daß ich zu Bettina zum Spiele-Abend gehe, und schlurfe ins Wohnzimmer.

„Laura,  alles okay, wohin gehst denn wieder, willst du nicht  mal einen Abend mit uns hier sein? Es gibt im Fernsehen  gerade eine sehr gute Sendung über die Gedenkstätte  Plötzensee.“

„Nein danke!“ sage ich laut. Ich bin schon zweimal höchstpersönlich  in Plötzensee gewesen, einmal mit der Schule und einmal,  falls sie sich erinnern können, mit meinen Eltern. Ich  habe jedesmal Alpträume nachher gehabt, mich hat das überhaupt nicht kaltgelassen, wie Wolf mir vorwarf,  bloß weil ich da drin ’ne Tüte Chips gegessen habe,  was er aus irgendeinem Grund „sehr unpassend“ fand.

„Wohin gehst du denn jetzt?“ fragt Wolf.

„Zum Spiele-Abend bei Betti!“ sage ich und sehe ihnen betont in die Augen.

„Ach,  mit Bettinas Mutter sollte ich mich auch mal wieder austauschen“, sagt Hannelore. Ich hoffe, man hat mir mein entsetztes Gesicht nicht angesehen. Es ist  nämlich schon vorgekommen, daß meine Mutter mir hinterhertelefoniert hat. Und diesmal habe ich nicht den Mega-Plan entworfen, um die Wahrheit luftdicht abzusichern. Aber Hannelore  sieht wieder zum Fernseher. Auch Wolf guckt gespannt nach vorne, den Kopf zur Seite, die Stirn in Falten gelegt, die „Nachrichten-Haltung“ eben.

Ich  düse ab, bin die erste vor der Mauer, an unserem Plätzchen. Dann kommt Rike, kurz danach Betti, Sebastian und Jens. Wenn man sich breitbeinig zwischen den Baum und die  Mauer stellt und dann langsam abwechselnd ein Bein hochschiebt,  kann man am Ende auf die Mauer kommen. Der Rückweg ist  leichter, weil die Familiengräber so viele Vorsprünge haben, daß man ohne Schwierigkeiten auf ihr Dach klettern  kann und von da auf die Mauer, die ungefähr die Höhe der Familiengräber hat. Wir knipsen unsere Taschenlampen  an und klettern herunter, jeder hat seine Lieblingsgräber, Lieblingswege. Ich laufe den Gang vorne an der Kapelle  entlang, wo man von einer Allee hoher Gräber mit Kreuzen  umgeben wird. Die Schatten der Kreuze werfen ein wirres  Muster auf den schmalen Weg, und ich spiele immer, daß  ich nie auf diese Schatten treten darf. Das ist nicht  einfach, denn die Kreuze stehen dicht beieinander, und  ihre Schatten bedecken fast den ganzen Weg.

Nachdem  wir unsere jeweiligen Lieblingsorte durchstreift haben, treffen wir uns hinten auf der Wiese, wo ausrangierte  Grabsteine, manche zerbrochen, in großen Haufen aufeinanderliegen.  Zwischen zwei dieser Haufen breiten wir unsere Prince-Decke aus. Wir trinken Brandy, rauchen unsere Tüten und albern  herum. Diesmal haben gleich zwei Leute einen Cassettenrecorder  mitgebracht, und so hören wir Easy und Jungle durcheinander. Dann machen wir noch Flaschendrehen, um uns gegenseitig  die peinlichsten Geschichten zu entlocken. Der, auf den die Flasche zeigt, muß die sogenannte „Ober-Horst-“  oder „Ober-Erna-Geschichte“ auffahren, und  ich erzähle wahrheitsgetreu, daß ich noch vor einem  Jahr nicht in der Lage war, einen Tampon richtig zu benutzen, weil ich nicht schnallte, daß die Scheide so eine seltsame Kurve macht. Alle lachen, auch Sebastian und Jens, und ich bemerke im weiteren Verlauf des Flaschendrehens  bei allen eine gewisse Tendenz, nicht völlig peinliche  Geschichten zu erzählen, so daß ich es am Ende fast  bereut habe, meine wirklich demütigende Tampon-Geschichte zum besten gegeben zu haben.

Wir  küssen uns alle zum Abschied auf den Mund, Rike und ich am längsten, beste Freundinnen eben.

Ich  bin um drei zu Hause, meine Eltern schlafen schon. Auf  meinem Kopfkissen liegt ein sechseckiger Zettel:

„Bitte gieß morgen die Blumen, ich sehe nicht ein, warum ich  das machen soll, wenn du Ferien hast und nichts tust  – Schlaf gut, deine H.“

Das  ist mal wieder typisch. Einerseits ärgert sie sich über mich, aber dann macht sie einen Umschwenker, weil sie  eben nicht nur meckern will, und schreibt noch  „Schlaf gut“. Immerhin hat sie nicht getobt,  von wegen erst so spät nach Hause kommen, und bei Bettinas Mutter hat sie offenbar auch nicht angerufen.

Am nächsten Tag streite ich mich mit Sven, weil er mir  meine Blättchen weggenommen hat und zwei meiner Jungle-Cassetten ohne mich zu fragen an Oliver ausgeliehen hat. Toll. Die sehe ich nie wieder. Er kramt die steinalte Geschichte mit seinem sowieso total häßlichen T-Shirt aus, das  ich mal verbummelt habe. Nur nervig. Am Ende sitzt jeder alleine in seinem Zimmer, ich höre „Body in Motion“  und er – absichtlich Gegenprogramm – „Liquid Sky“.

Mir  graut bei dem Gedanken, daß in fünf Tagen die Schule  wieder anfängt. Ich habe zur Zeit das Gefühl, daß einfach  nichts in meinem Leben passiert. Ständig kriege ich den Eindruck vermittelt, daß ich jetzt in das Alter  komme, in dem man irre verliebt sein muß, abgefahrene  Partys besucht und von einer spannenden Sache in die  nächste stolpert. Manchmal denke ich auch, Wolf und Hannelore wollen vor uns angeben, wenn sie erzählen, was sie alles erlebt haben. Hannelore war im Mai 1968  in Paris, Wolf hat gesehen, wie auf Dutschke geschossen wurde, und ist sogar einmal selbst verhaftet gewesen. Allerdings nur für eine Nacht wegen wiederholtem Schwarz-Fahren,  wie er später zugab. Hannelore erzählt hin und wieder von ihren Freunden, „meine lover“ sagt sie,  und Wolf guckt betont locker, aber ich habe doch das Gefühl, daß er das alles nicht so gerne hört.

Und  was mache ich? Politik oder irgendeinen anderen Mannschaftssport  gibts nicht mehr, ich habe noch keinen Freund gehabt,  ich meine so einen richtigen, nicht nur Zungenkuß auf einer Party. Ich mache zweimal die Woche Modern Dance,  höre gern Musik, klimper‘ ein bißchen auf meinem Keyboard herum, aber Sven meint immer, das sei „Rausschmeißer-Musik“, die ich da fabriziere. Er ist drei Jahre älter als ich und darf schon solange abends wegbleiben, daß er weiß,  welche Musik in den Clubs gespielt wird, um die letzten Leute rauszuekeln. Um mich zu ärgern, sagt er: „zum  Schluß Easy Listening“, aber ich kläre ihn auf, daß er völlig verkalkt ist und keine Ahnung hat, wie  hip Easy und Bad Taste gerade ist. „Ich finde es  eher peinlich, immer so der Mode hinterherzulaufen“,  belehrt Sven mich dann und stellt sein psychedelisches  Gegluckse an.

Wir  sitzen beim Frühstück, Wolf ist gestreßt, weil er gleich  irgendeine Besprechung hat. Er arbeitet bei einer Zeitung.  Es scheint ihn direkt zu stören, daß wir anderen deshalb  keine schlechte Laune haben, und er sieht Sven und mich  vorwurfsvoll an, als wir herumalbern. Jetzt kommen die  Nachrichten, meine informationssüchtigen Eltern verfallen  wie auf Knopfdruck in ihre Nachrichtenhör-Körperhaltung. Es geht um irgendwelche Rentenreformen, die mal wieder  geplatzt sind, und um andere langweilige Sachen. Als eine Nachricht über einen Raubmord kommt, dreht meine Mutter gleich das Radio aus.

Am Abend treffe ich die anderen vor der Mauer. Heute sind Guido und Rebecca mitgekommen, und wir rauchen soviel, daß ich fast von einem der Familiengräber stürze, weil  ich die Farbkontraste um mich herum nicht mehr richtig unterscheiden kann. Sonst ist es sehr lustig, Guido  erzählt von komischen Weirdos mit einer Wohnung voller Schildkröten, die er in London kennengelernt hat. Als  wir nachher Flaschendrehen spielen, setze ich mich neben ihn, denn ich hoffe, daß er, wenn die Flasche auf ihn  zeigt, aufgefordert wird, jemanden zu küssen, und das wäre dann ja praktisch. Tatsächlich ruft Jens, als die Flasche auf Guido zeigt: „Jetzt einen saftigen Kuß, Guido, wen und wohin du willst!“ Und Guido  dreht sich zu Rebecca, die auf der anderen Seite sitzt, und küßt sie zärtlich auf das Schlüsselbein, das von  ihrem neonfarbenen Träger-Top freigelassen wird.

Obwohl ich es mir hätte denken können, weil die beiden so dicht nebeneinander an der Mauer lehnten, als ich vorhin gekommen  bin, war ich doch traurig. Ich habe mich dann sehr zugedröhnt,  bin, wie gesagt, beinahe vom Dach eines Familiengrabs gestolpert und zu Hause in einen zementschweren Schlaf  gefallen.

Wir  haben kein weiteres Treffen ausgemacht, oder ich war  so zugehämmert, daß ich es nicht mehr mitbekommen habe, jedenfalls wache ich am nächsten Morgen auf, ohne mich  auf irgend etwas freuen zu können.

Ich  rufe bei Rike an. Ihre Mutter sagt: „Rike ist heute für vier Tage nach Hamburg gefahren, zu ihrer Stiefschwester. Hat sie dir das nicht erzählt?“

Hab  ich wohl gestern nicht mehr mitgekriegt, denke ich.

Meine  Mutter sagt, wer nichts mit sich anzufangen wisse und sich oft langweile, sei selbst ein langweiliger Mensch. Selbst der ödesten Umgebung, „zum Beispiel einem  sibirischen Gefängnis“, das ist ihr Paradebeispiel,  könne man noch etwas abgewinnen, wenn man ein „kreativer und interessanter Mensch“ sei. Na, dann bin ich  wohl ein langweiliger Mensch, denn heute, allein in Neukölln, alle Freunde verreist oder nur als Anrufbeantworterstimme  zu hören, weiß ich nicht viel mit mir anzufangen. Habe keine Lust zum Musikhören oder Fernsehen, zum Keyboard-Spielen und Nähen an meiner neuen Hose auch nicht.

Ich  überlege, ob ich noch mal bei Igor anrufe, seine Stimme höre und dann ganz schnell wieder auflege. Vielleicht  muntert mich das ja etwas auf.

„Hallo?“ sagt eine tiefe warme Stimme.

„Ach,  entschuldigen Sie, spreche ich mit Neuhaus?“ frage  ich mit verstellter Stimme.

„Äh, nein, hier ist Sachsleben, welche Nummer haben Sie denn?“

„Ach“, sage ich, „einen Moment, ja, hier habe ich sie,  also das ist die 684 59 32.“

„Da  habe Sie sich leider verwählt, hier ist nämlich die 683 59 32“, sagt Igor höflich.

Ich  entschuldige mich einmal, nein zweimal, und lege auf. Er hat so eine nette, angenehme Stimme, jetzt muß ich wieder tagelang davon zehren, warum redet er denn nie  mal mit mir? Ich wälze mich auf die Wohnzimmercouch, lege das Kissen auf mein Gesicht, so daß ich seinen  staubigen Geruch in der Nase habe, und rühre mich für  die nächsten zwei Stunden nicht mehr.

Als  nachmittags Sven nach Hause kommt, hat er einen Stapel  Platten vom Trödelmarkt unter dem Arm und verzieht sich  gleich in sein Zimmer. Er ist zur Zeit auch nicht so gut drauf, weil Jana ihn verlassen hat. Seitdem ist  er mir sympathischer geworden. Nur leider drückt sich die Melancholie meines Bruders dahingehend aus, daß  er ständig alleine sein will, absolut rede-unlustig  ist und meist nur auf seinem Hochbett liegt, raucht und alte Platten hört. Mir wird klar, daß ich heute abend entweder alleine in meinem Zimmer sitzen werde,  oder, aber nur wenn ich kein Wort sage, bei Sven auf dem Hochbett sitzen darf und komische Seventies- Musik über mich ergehen lassen muß oder mit meinen Eltern irgendeine politische Sendung im Fernsehen verfolgen darf.

Ich  schaue in den großen bis zum Boden reichenden Spiegel in meinem Zimmer: Ich bin 14, jung und schön, ich werde  doch heute abend hier nicht versauern! Ich gehe ins  Bad, dusche mich so ausgiebig und lustvoll wie lange  nicht mehr, dann ziehe ich mir mein oranges Stretch-Minikleid an, meine quietschgrünen Turnschuhe mit dicker Sohle,  dazu meine Baseballkappe und meine Sonnenblumen-Haarspange. Es ist noch nicht kalt, ich brauche keine Jacke. Wieder  fängt mich Hannelore im Flur ab, wieder lüge ich, ich würde zu Sebastians Geburtstag gehen. Hoffentlich fällt  nicht irgendwann auf, daß kein normaler Mensch andauernd  Geburtstag haben kann. Ich glaube, ich hatte Sebastian schon mal kurz vor den Sommerferien.  „Hast du denn kein Geschenk dabei?“ fragt Hannelore mich,  und ich laufe glühend rot an.

„Doch  … äh, es ist ein Gemeinschaftsgeschenk … äh … Bettina bringt es mit… äh wir schenken ihm zusammen eine Swatch …“

„Hättet  ihr euch nicht etwas Einfallsreicheres überlegen können,  die Dinger sind ja auch ganz schön teuer …“, meint meine Mutter. Ich sage nichts, hoffe bloß, daß  sie das nicht mal Bettinas Mutter gegenüber erwähnt,  und stürme los.

Ich  habe beschlossen, heute alleine ins Kino zu gehen und mich nachher ins „Trash In Garbage Out“ zu  begeben und einen Jungen kennenzulernen. Ich fahre auf  meinem Fahrrad zur Oranienstraße und bemerke zu meiner  Freude, wie eine Gruppe von älteren Jungs in Lederjacken und Baseballkappen mir hinterherschaut. Ich drehe mich zu ihnen um, beinahe wäre ich gegen eine Lastwagen gefahren,  und lächele ihnen zu. Sie winken zurück. Ach, kann das  Leben schön sein.

Der  Film ist blöd, kaum Liebesszenen, leider, nur so Ulk-Zeugs, das nicht mal richtig lustig ist. Einer der Schauspieler ist ziemlich niedlich – aber ich schwärme nicht mehr  für Schauspieler, das machen nur Mädchen aus der sechsten und siebten Klasse – mir ist das zu primitiv.

Ich  gehe nach dem Film auf die Damentoilette und betrachte  mich im Spiegel, ich sehe heute richtig klasse aus,  denke ich und gebe mir im Spiegel einen Kuß. Dann schlendere ich durch das Foyer, grinse dem Popcorn-Verkäufer zu,  der mich schon kennt, und schaue mir die Filmfotos an den Wänden an. Neben mir steht ein blonder Typ mit einer schönen großen Nase, den ich unauffällig mustere. Plötzlich  spricht er mich an: „Und hat’s dir eben gefallen?“

Er lächelt etwas schüchtern, ist vielleicht zwei, drei  Jahre älter als ich, so alt wie Sven. Ich fahre mir  kurz durch die Haare und sage: „Naja, ein bißchen  albern, ich mag schon lieber Filme, die auch ein bißchen  Inhalt haben.“

„Verstehe“,  gibt er zurück, „geht mir eigentlich auch so, weiß  du, was ich letztens gesehen habe …“, er beugt sich recht vertraulich zu mir nach vorne, „im Open-Air-  Kino in der Hasenheide war das“, fängt er an, da  kneift ihn ein Mädchen von hinten neckisch in die Pobacke.  „Tobias, du Charmeur, kaum bin ich mal auf Toilette  …“, sie hakt sich bei ihm ein und guckt mich  triumphierend an. Leider fällt mir nichts ein, was ich noch hätte sagen können. Es gibt Mädchen, die so dreist sind wie Rike und in solch einer Situation einfach ihre Telefonnummer rüberreichen und das verdutzte Gesicht  der Tussie daneben ignorieren. So ist Rike, aber so bin ich nicht.

„Na  denn euch noch einen schönen Abend“, sage ich schnell und laufe aus dem Foyer. „Tschüssi“, ruft  Tobias mir noch hinterher, und schon bin ich draußen.

Ich  fahre auf meinem Rad zum „Trash In Garbage Out“.  Es ist voll, es sind ein paar Leute da, die ich vom Sehen kenne, aber plötzlich finde ich es sehr peinlich,  hier alleine aufzukreuzen. Die denken dann, ich habe  niemanden zum Weggehen. Eine Weile stehe ich unschlüssig vor der Tür, tue so, als warte ich auf jemanden, und  gucke ab und zu auf die Uhr, dann setze ich mich doch  auf mein Fahrrad. Als ich den Kottbusser Damm wieder hochfahre, bekomme ich total schlechte Laune. Es stimmt  nicht, daß ich ein langweiliger Mensch bin, bloß habe ich einfach keine Lust die Sachen zu machen, die ich  jetzt alleine zu Hause machen könnte. Ich weiß, ich  könnte Wolf schon überreden, mit mir Schach zu spielen, oder Hannelore würde mit mir Tarot-Karten legen, aber ich habe im Moment nicht das Vertrauen zu ihr, ehrlich  zu sagen, was ich bei den einzelnen Karten assoziiere.

Ich  fahre den Kottbusser Damm in die andere Richtung entlang. Soll ich nicht doch mal ins „Trash In“ gucken?  Vielleicht ist Igor ja da. Aber was wird er von mir  denken, wenn ich ohne Alibi-Freundin auftauche? Das geht nicht, es hat keinen Zweck. Ich fahre in Kreisen  auf einem Parkplatz herum. Ein Prolltyp mit Oberlippenbart läuft an mir vorbei, würdigt mich keines Blickes. Noch nicht mal so ein Idiot guckt mich an, denke ich, und mir laufen ein paar Tränen die Wangen herunter. Jetzt  ist es endgültig zu spät, um mich noch unter die Tanzenden im „Trash In“ zu mischen. Ich finde es auch  langsam kalt in meinem trägerlosen Kleid, und es ist  mir klar, daß es das einzige Vernünftige ist, zurück nach Hause zu fahren, mich ins Bett zu legen und zu schlafen. Bei dieser Einsicht weine ich noch ein bißchen  mehr, schiebe schniefend mein Fahrrad die Thomasstraße  entlang. Es ist stilll und dunkel. Rechts neben mir rauschen die Ahornbäume vom Friedhof. Ich überlege.  Warum sollte ich nicht heute allein dort meine Party  feiern? Einen Notjoint habe ich bestimmt in meinem Plastikrucksack.  Und Musik? Musik ist immer in meinem Kopf. Ich stelle  mein Rad ab und gehe zu unserem Geheimbaum, dann spreize  ich meine Beine und schiebe mich in bewährter Technik hoch. Ich hüpfe auf die Mauer und laufe über die Dächer der Familiengräber. Wie das wohl von unten aussehen  muß, wie ich hier in meinem orangen Kleid herumspringe? Dann laufe ich meinen Lieblingsweg entlang, ich renne  ihn entlang, habe das Gefühl, unendlich viel überschüssige Energie zu haben. Heute spiele ich das Spiel umgekehrt:  Ich darf nur auf die Schatten der Kreuze hüpfen, nicht auf die hellen Flecken des Lichts, welche die Straßenlaternen von der Thomasstraße hier noch lassen. Ich gehe am Brunnen vorbei über den Hauptweg, der mit vielen schönen Ahornbäumen gesäumt ist, zu unserer Wiese. Dann setze ich mich alleine ins Gras und rauche meinen Joint. So muß ich ihn wenigstens mit niemandem teilen, tröste ich mich. Ich habe keine  zwei Züge genommen, da höre ich ein Geräusch. Es klingt nach Schritten auf Stein, aber weiter vorn. Ich recke meinen Kopf. Und sehe ich einen kleinen Mann auf einem der Familiengräber. Er duckt sich. Dann scheint er etwas in seiner Hosentasche zu suchen. Ich kann im Dunkeln nur seine Konturen erkennen. Was er hier wohl macht,  wie er hier reingekommen ist? Mit seinen Stummelbeinchen dürfte er kaum den Weg genommen haben, den wir immer  nehmen. Jetzt sehe ich etwas in seinen Händen, und ein  Lichtstrahl erscheint. O Gott, vielleicht ein Friedhofswächter.  Noch hab ich keinen hier gesehen, aber mir fällt Hannelores Zettel wieder ein; vielleicht soll hier ja jemand aufpassen, wenn an der Sache etwas dran ist.

Ich  starre zu dem kleinen Mann. Er hat die Taschenlampe ausgeknipst und hält jetzt einen Feldstecher in der  Hand. Den hat er aber nicht auf das Friedhofgelände  gerichtet, sondern auf eine Wohnung im ersten Stock in der Thomasstraße. Wenn ich mich auf einen Grabstein  stelle, sehe ich, was er sieht. O Mann. In einer Badewanne,  die total mit Plastikblumen dekoriert ist, liegt … ein Mann, eindeutiges Indiz gesehen, mit langen schwarzen  Haaren und reibt sein eindeutiges Indiz an den Brustwarzen einer schlanken schönen Frau mit sehr langen knallroten  Haaren. Er packt sie an den Schultern, er schüttelt sie, fährt ihre Wirbelsäule nach, knetet ihr den Hintern. Ich glaub, ich sehe nicht recht. Seine Lippen gleiten  ihre Brüste abwärts, und seine Zunge stößt in ihren Bauchnabel. Jetzt ist seine Zunge zwischen ihren Beinen, es sieht aus, als würde er sie beißen, aber es scheint  ihr nicht weh zu tun. Nun legt die Frau sich auf den  Typ, etwas Schaumwasser spritzt auf, sie fährt mit ihrer  Zunge über seine linke, seine rechte Lende, seinen Schwanz entlang, herauf, herunter. Dann verschwindet ihre Zunge  hinter seinem Glied, sie macht irgendwas mit einer Hand an seinem Po. Jetzt wickelt sie ihre langen roten Haare  um seine Hoden. Mann, was man alles machen kann, ob Wolf und Hannelore … oder Rike und Pierre …? Ich gucke nicht weiter hin, fühle mich völlig benommen.  Ich muß an Rike und ihren Pierre denken, und daran, was sie mir letztens von „sexueller Abhängigkeit“  ins Ohr geflüstert hat. „Tja, kann ich nicht beurteilen“, habe ich ihr dazu gesagt.

Jetzt  sehe ich mir noch mal den Typ auf dem Familiengrab an.  Was für eine Idee, hier mit Fernglas anderen Leuten,  die zugegebenermaßen keine Gardine in ihrer über und  über mit bunten Stoffen und Lametta behangenen Wohnung haben, zuzusehen. Im Hinterkopf höre ich die Stimme meiner Mutter, und ich denke: Das ist bestimmt dieser  Typ mit der Vergewaltigungsstory, wenn er sich schon so was anglotzt. Das muß er ja richtig geplant haben, man läuft doch sonst nicht einfach mit einem Fernglas herum. Was mache ich nur, wenn er länger da oben bleibt? Das ist genau das Grabdach, von dem aus ich zu meinem  Baum komme. Ich kann sein Gesicht durch den Schein einer Straßenlaterne ganz gut sehen. Er hat ein ernstes, eher trauriges Gesicht, eigentlich gar kein Brutalo-Gesicht,  aber das ist ja auch nur ein Klischee. Er stiert ununterbrochen in dieses Badezimmerfenster.

Wahrscheinlich ein totaler Klemmi. Gleich darauf fällt mir ein, daß Rike mich auch schon mal als „Klemmi“ bezeichnete,  und zwar, als Igor auf dem Hof sie nach Feuer fragte, und sie blitzschnell reagierte und gesagt hat: „Nee,  ich nicht, aber meine Freundin Laura.“ Leider starrte ich Igor nur einige Sekunden an, anstatt gleich mein  Feuerzeug und ein paar Gesprächsideen zu zücken, und  dann rief schon jemand hinter ihm: „Hier, Igor!“,  und Igor drehte sich gleich wieder weg.

Ich  stehe auf, mache meinen Joint aus und nähere mich dem Grab, bleibe aber hinter einem Ahornbaum in sicherem  Abstand stehen. Jetzt verkrampft sich das kleine Gesicht des Mannes, er stützt den Kopf auf. Minuten vergehen so. Dann nimmt er die Hände von seinem Gesicht und sieht  auf einmal sehr entspannt, glücklich aus.

Ich  habe das Geschehen in der Badewanne nicht weiter verfolgt,  weil es mir im Gegensatz zu dem Mann peinlich ist, anderen dabei so direkt zuzusehen und weil ich dann auch schlechte Laune bekomme. Nun habe ich mich bewegt, die Blätter des Busches neben dem Ahornbaum rauschen etwas. Der kleine Mann auf dem Dach dreht sich zu mir um, und für einen Moment kriege ich echt Schiß. Er steht auf dem Dach, meinem einzigen Ausgang aus dem Friedhof. Er sieht in meine Richtung, sieht mich an. Dann ist er verschwunden.

Eine Weile lang bleibe ich verwirrt stehen. Wo kann er denn hin sein? Nicht, daß er gleich hinter mir mit einem  Messer auftaucht. Sein starrer Blick, als er in das Fenster dieser beiden Leute schaute, die wie seltsame  Siebziger-Jahre-Popstars aussahen … Es ist absolut still auf dem Friedhof, ich halte noch etwas inne. Dann  wage ich ein paar Schritte in Richtung des Familiengrabs. Ich nehme die Vorsprünge und bin gleich oben. Da liegt ja seine Taschenlampe! Erst will ich sie einstecken,  dann überlege ich es mir plötzlich anders und lege sie  wieder hin. Ich werde morgen noch mal vorbeikommen und gucken, ob sie noch da ist. Ob der Typ hier öfter herkommt.

Ich  stemme mich zwischen Baumstamm und Mauer ab und gelange nach unten. Irgendwie ist es doch ein spannender Abend  geworden, wenn auch ganz anders als erwartet.

Am nächsten Abend gehe ich wieder allein zum Thomas-Friedhof, obwohl mich heute sogar Sebastian und Bettina gefragt haben, ob ich mit ihnen in den „Icon-Club“  im Prenzlauer Berg gehe. In alter Routine erzähle ich Hannelore und Wolf von irgendeinem Geburtstag und kümmere  mich nicht mehr darum, ob sie das alles noch glauben  oder nicht, dann schlendere ich los. Heute habe ich einen leuchtend roten Minirock aus Samt und ein gestreiftes T- Shirt von H & M an.

Als  ich die Thomasstraße langlaufe, werfe ich einen Blick hoch zu der Wohnung dieser love-birds, aber ich erspähe  außer Unmengen an silbernem Lametta, blauen Tüchern, Seesternen und anderen komischen Sachen nichts.

Ich  bin noch nicht auf dreiviertel Höhe der Mauer, da sehe  ich schon den kleinen Mann auf dem Dach sitzen. Im ersten  Moment bin ich so erschrocken, daß ich fast wieder heruntergesprungen  wäre. Ich bemerke, wie auch er bei meinem Anblick zusammenzuckt.  Als ich mich weiter nach oben stemme, nickt er mir irritiert  zu. Jetzt bin ich auf dem Dach angelangt. Der Mann guckt mich stumm an, ich sehe die Taschenlampe in seinen Händen,  dann macht er mir Platz, weil er wohl denkt, ich wolle  an ihm vorbei, herunterklettern. Er wirkt eher betreten,  blickt auf seine Taschenlampe und seine Schuhe, plumpe, braune Halbschuhe. Ich baue mich in meinem kurzen Rock vor ihm auf und lächele kurz: „Hi, ich habe Sie  schon gestern hier gesehen, ich hab mich gefragt, was Sie hier machen, Sie haben nur so auf dem Dach rumgesessen  und mit der Taschenlampe rumgeblitzt.“

Plötzlich wirkt der Mann sehr erleichtert, deutet ein Lächeln  an und murmelt: „Na, dann wünsche ich dir noch  einen schönen Abend“.

Ich  sehe ihn scharf an und schiebe meine Hüfte etwas nach vorne. „Sind Sie einsam?“

Er guckt überrascht hoch. „Warum fragst du … oder soll ich Siezen … warum fragen Sie mich das?“

„Lesen Sie manchmal Zeitung?“ frage ich ihn.

„Doch  ja, wieso … steht da was über Einsamkeit drin?“ Er guckt mich irritiert an.

Tu doch nicht so, denke ich. Ich sehe ihn fest an, er schaut  an mir vorbei, durch meine Beine hindurch, zu dem Fenster gegenüber. Ich antworte immer noch nicht, sondern denke  daran, was Rike mir vor einem Monat gestanden hat. Daß sie einmal aus Langeweile und weil gerade absolut kein Mann auf der Bildfläche war, mit ihren Nachbarn, einem vierzigjährigen alten Knacker, geschlafen hätte. Äußerlich war er wohl ziemlich unattraktiv, aber er hat sie dann doch sehr positiv überrascht. Sie hat das Ganze allerdings bald abgebrochen, weil ihre Eltern völlig ausgeflippt  wären, wenn sie das erfahren hätten. Und jetzt ist Rike mit Pierre glücklich, und ich werde ohne sie noch einsamer werden.

„Ich bin manchmal einsam“, sage ich und setze mich im Schneidersitz vor dem Mann hin, der mich noch erstaunter anguckt. Er zuckt mit den Schultern, schaut weg, sieht mich kurz an, guckt wieder zum Fenster rüber. Schließlich  sagt er etwas, mein Blick hängt die ganze Zeit an seinem  Gesicht. „Naja, hast du denn keine Freunde …“

Es ist eigentlich keine Frage, sondern eine Bemerkung,  und es wirkt nicht so, als sei er an einer Antwort interessiert.  Es beginnt mich zu ärgern, daß dieser häßliche kleine Mann, ob er nun ein Verbrecher ist oder nicht, nicht mehr Enthusiasmus für mich an den Tag legt. Ich schiebe  eine Hand auf meinen Oberschenkel. Rike sagt immer:  Selbstberührungen sind sehr anturnend. Der Blick des Mannes folgt tatsächlich meiner Hand, na endlich, denke ich, da sagt er: „Mensch ist dir nicht kalt, in  so dünnen Sachen, und überhaupt, du bist doch noch ein Kind, was machst du nachts hier so alleine …“

Das  ist nicht die Art von Gesprächigkeit, die ich mir erhofft habe.

„Mir ist nicht kalt“, sage ich schlicht, „Ich bin schon vierzehn!“

Der  Mann schüttelt den Kopf. „Deine Eltern?“ fragt  er nur.

„Ich treffe mich hier manchmal nachts mit meinem … lover“,  sage ich, sowohl Rike als auch meine Mutter zitierend. Rike meint immer, die Erwähnung erotischer Themen wirke  erregend auf den anderen.

Der  kleine Mann sieht mich irritiert an. „Das ist aber  ein ungemütlicher Ort.“

„Und was machst du hier ?“ frage ich.

Damit  hat er nicht gerechnet. Er hält seine Taschenlampe fest in beiden Händen. Schließlich murmelt er: „Ich bin halt ein melancholischer Mensch und laufe gern nachts  auf Friedhöfen herum, dann paßt die Umgebung zu meiner Stimmung …“

Es liegt mir auf der Zunge zu sagen: „Und deshalb hast du eine Taschenlampe und ein Fernglas dabei?“, aber ich verkneife es mir, denn ich will ihn nicht total verärgern. Er wirkt ziemlich harmlos, ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß er der Vergewaltiger vom Thomas-Friedhof ist, aber sagt man nicht gerade, daß die sanftesten  und liebenswürdigsten Typen die scheußlichsten Verbrechen  begehen? Ich betrachte den kleinen Mann, wie er gespannt  auf das Fenster hinter mir blickt. Eben ist Licht da  drüben angegangen, rotes Licht, ich habe mich auch umgedreht.  Da steht der Mann mit den langen blauschwarzen Haaren in einer silbernen engen Schlaghose und knöpft sich sein rosa-orange gestreiftes Hemd mit riesigem Kragen langsam auf. Die Frau liegt auf dem Sofa und löffelt genußvoll Nutella. Jedesmal, wenn sie den Löffel ableckt,  blickt sie den Mann lange an. Jetzt fällt sein Hemd  fällt auf den Boden.

Plötzlich  bemerke ich, daß der kleine Mann mich unfreundlich ansieht.

„Du  solltest nach Hause gehen, es ist eiskalt“, knurrt  er.

„Sind  Sie immer so was von uncharmant zu einer Frau?“ fahre ich ihn an. Ich stelle mich breitbeinig vor ihn  und das Fenster hinter mir. Er guckt gar nicht zu mir hoch, sagt nichts, stiert nur durch meine langen braunen Beine in das Fenster, direkt unter meinem Schritt, als würde er vor einem Fernseher sitzen.

Ich  spüre, wie ihn meine Gegenwart stört. Trotzdem frage  ich ihn „Wie spät ist es?“, weil mich der Gedanke daran, wieder alleine nach Hause zu gehen, traurig macht. Der Mann scheint wie aus tiefen Träumen zu erwachen,  „kurz nach zwölf“, sagt er abwesend. Dann fügt er noch hinzu: „Spät für ein Kind, wirklich,  wenn du meine Tochter wärst …“

Ich  trete ihm aus der Sicht, sein Fernglas hat er in meiner Anwesenheit nicht in die Hand genommen, er kneift die  Augen zusammen. Einen Moment denke ich, daß ich das  alles nicht verstehe, ich habe doch auch rote Haare,  zwar kürzer und ein dunkleres Rot, was viel besser aussieht als dieses Siebziger-Knallrot, und ich behänge mich  auch nicht mit soviel Unsinn wie die beiden da drüben, aber wenn man nackt ist, ist das doch sowieso egal.

Der  kleine Mann hält jetzt sein Fernglas hoch, ungeachtet meiner Person, er rutscht auf seinem Platz hin und her, ein Zucken um seinen Mund, tut einfach so, als wäre ich nicht da. Die ganze Situation provoziert mich so,  daß ich mein T-Shirt etwas anhebe, und noch ein bißchen, und noch ein bißchen, jetzt – sieht man meine Brustwarzen.  Wie sie sich in der lauen Nachtluft gleich aufstellen.

Mir  läuft ein kalter Schauer den Rücken herunter. Da unten  steht noch ein anderer Mann! Er steht im Gebüsch, und ich sehe, wie sich seine Hand immer schneller hin und  her bewegt. Die dunklen Augen sind fest auf mich gerichtet. Ich kann sein Gesicht erkennen, er sieht wie ein Klischee-Verbrecher  aus, quadratischer Kopf, Narbe auf der Wange, flache  Stirn. Sein Glied ist sehr weiß und riesig, die Hand  rot, der Daumen mit einer Mullbinde versehen.

Ich  lasse mein T-Shirt fallen und stemme mich, so schnell ich kann, an dem Baum herunter, ich vergesse mein Fahrrad und laufe los. Einen Blick erhasche ich noch von dem  Fenster über mir: rotes Licht und silberne Streifen,  zwei ineinanderversunkene Menschen, die keine Ahnung  haben, was außerhalb ihrer Wohnung, geschieht.

Zu Hause angekommen, steht Hannelore schon in der Tür,  kaum hat sie meine Schritte im Treppenhaus gehört.

„Du  warst nicht bei Bettinas Geburtstag, ich habe mit Bettinas  Mutter gesprochen …“

Habe ich gesagt, ich wäre bei Bettinas Geburtstag gewesen?  Wie unvorsichtig von mir! Ich sehe meine Mutter betreten an.

„Ich geb’s zu, ich hab mich mit einem Jungen getroffen, er  heißt Igor, und ich bin wirklich in ihn verliebt!“

Da wird das Gesicht meiner Mutter plötzlich weich, sie  nimmt mich in die Arme und drückt mich an sich. „Meine große hübsche Tochter!“ sagt sie.

©  Tanja Dückers, Kapitel „Laura“ aus „Spielzone“, Roman, Aufbau-Verlag, Berlin 1999

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