Selbstportrait des Schriftstellers als öffentliche Person

Bücher schreiben im stillen Kämmerlein – das war einmal. Sobald ein Schriftsteller einigermassen Erfolg hat, wird er von der wohlmeinenden Öffentlichkeit als Spezialist fürs Ganze in Beschlag genommen. Zwischen Fernsehdiskussionen und Schulauftritten, Völkerverständigungsreisen und Agententerminen kommt er kaum noch zur Besinnung.

Wenn man sich Carl Spitzwegs berühmtes Gemälde „Der arme Poet“ aus dem Jahr 1839 anschaut, fällt einem als Erstes die Kargheit seines Dachstübchens ins Auge. Der Dichter liegt frierend und mit Jacke bekleidet in einem von Büchern umgebenen Bett. Die Szenerie vermittelt nicht den Eindruck, als ob dieser arme Poet seinen Rückzugsort oft verlassen würde. Eine Stimmung aus Spinnenweben und Einsamkeit liegt über allem. Der normalo-arme Poet von heute sitzt mit Fleecejacke eingemummelt am Rechner, er spart ebenfalls an Heizkosten, zumal er ja morgen wieder auf Lesereise gehen wird und erst gestern von einem Symposium, auf dem er honorarfrei aufgetreten ist, zurückgekommen ist. Ihm raucht der Kopf von all dem, was er gerade erlebt hat, und doch muss schon der nächste Auftritt vorbereitet werden. Der schriftstellerische Alltag ist heutzutage geprägt von Lesungen, Podiumsdiskussionen, Debattenbeiträgen, von Radiointerviews, Fernsehauftritten, Foto-Terminen, Agenten- und Steuerberatungsterminen, Gesprächen mit Schülern, mit Studenten, von Reisen ins In- und Ausland. Von Künstlern aller Sparten wird heute ein hohes Maß an Flexibilität, Mobilität („Frau Dückers, wollen Sie in zehn Tagen nach Caracas fliegen? Was? Sie haben Familie?“) und „Multitasking“ gefordert. Weil Autoren meist Künstler, Manager, Rechercheur, Sekretär und Kulturvermittler in Personalunion sind, wird ihnen ein schnelles Changieren auf verschiedenen Ebenen abverlangt. Schriftsteller friemeln sich in die Künste des Webdesigns ein, weil sie sich die vierstelligen Summen, die professionelle Webdesigner für ihre Dienste verlangen, nicht leisten können. Und eine Website sollte ein Autor heute schon haben. Sie antworten Lesern und Literaturveranstaltern aus aller Welt in verschiedenen Sprachen, kurbeln Lizenzverhandlungen an, beantworten Mails von Schülern oder Studenten, die über ihr Werk Referate halten (Orginalzitat einer Mail an mich: „Frau Dückers, leider muss ich übermorgen ein Referat über Ihren Roman ‚Spielzone’ halten. Stress!!! Können Sie mir bitte kurz mal zusammenfassen, worum es da geht?“) und werden überhaupt oft mit merkwürdigen Mails behelligt, sie graben sich ins Steuerrecht ein und beschäftigen sich mit den neuesten Gesetzesnovellen zum Thema Urheberrecht. Auch auf ihrem ureigenen Gebiet, der Literatur, hat sich die Arbeit diversifiziert. Ständig werden Schriftsteller zu irgend etwas eingeladen, hier ein Abendessen, dort ein Symposium, hier ein Kulturaustausch-Irgendetwas-Projekt, dort eine literarischer Stadtspaziergang. Eigentlich ist das alles großartig und spricht von einem regen Kulturleben in Europa. Und man erlebt ja auch viel „Denkwürdiges“ dabei. Ja, eigentlich. Wenn es einen doppelt geben könnte! Und wenn man dabei auch mal etwas verdienen könnte (früher waren Schriftsteller arm und einsam, heute sind sie arm und „gemeinsam“). Und wenn man nicht gelegentlich bei all diesem regen Austausch den Eindruck hätte, er stelle nur einen Wert an sich dar – es geht nicht mehr darum, wie viel Substanz der Austausch hat, sondern nur darum „dass man sich so schön ausgetauscht und Brücken geschlagen hat“. Ständig ist man in vollkommen unterschiedlichen Konstellationen unterwegs, kaum hat man sich auf die Denkweise und Mentalität eines Kollegen eingestellt und könnte nun interessant mit ihm streiten, sitzt man schon wieder auf einem anderen Podium und soll ernsthaft mit Menschen debattieren, die man noch nie vorher gesehen, erlebt hat. Lesereisen und Stipendien, von denen fast alle Schriftsteller monetär abhängig sind, führen zu einer weiteren Zerrissenheit durch Mobilität. Die Vitae mancher Schriftsteller lesen sich von ihrer Reiseaktivität her wie die von Unternehmensberatern global agierender Firmen. All diese Anforderungen, die raschen Themen- und Ortswechsel produzieren eine große Unruhe, die nicht jedem Schriftsteller noch die Möglichkeit geben, zu umfangreichen Epochenromanen auszuholen. Viele entdecken aus Zeit- und Konzentrationsgründen das kurze Format für sich, wandern in den Journalismus ab oder schreiben 80-Seiten-Büchlein, die „Erzählung“ genannt werden müssten, vom Verlag aber aus verkaufstechnischen Gründen mit „Roman“ geschmückt werden. Manch Autor verbringt  mehr Zeit mit dem „Darüber Reden“ als mit dem Schreiben an sich. Und man fragt sich, wer diese diffuse Öffentlichkeit ist, die man – vielleicht – erreicht. Insbesondere bei Internetmagazinen hat man oft keinen Durchblick mehr, wer da eigentlich etwas von einem hochladen oder ein Interview machen will.

Die heute notwendige Bewältigung unglaublich vieler kommunikativer und administrativer Aufgaben verträgt sich überdies schlecht mit einem introvertierten, romantischen oder weltfremden Gemüt. Als 15-Jährige wollte ich Schriftstellerin werden, weil ich mir einbildete, dann in Ruhe zuhause all die verwirrende Unordnung in meinem Kopf zu Papier bringen zu können. Auch meine Generation ist ja noch von Spitzwegs Bild des Dichters im stillen Dachstüblein geprägt. Nie hätte ich gedacht, in welcher Weise Autoren – wenn sie das Schreiben zur Profession gemacht haben – öffentliche Personen sind.

Von der aus Spitzwegs Gemälde atmosphärisch aufsteigenden Einsamkeit, von der Stille und Weltentrücktheit ist heute kaum noch etwas zu spüren. Es fragt sich, ob je eine Schriftstellergeneration so zur Extrovertiertheit animiert wurde wie die jetzige. Und welche langfristige Folge dies für die Literatur und ihre Schöpfer hat. Die Stille und Abgeschiedenheit, die bei Spitzweg noch ein Signum des armen Poeten war, können sich heute nur wenige reiche Poeten leisten. Sie sagen den ganzen Selbstvermarktungs- und Werbequatsch einfach ab und bleiben zuhause, in ihrem Dachstübchen, auf Satinkissen, umgeben von Büchern – und tun nichts als Schreiben. Was für ein Luxus.

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