Ein Volk von Pyromanen – Was zieht so viele Deutsche nach Barcelona? Die Schriftstellerin Tanja Dückers über die Hauptstadt des Designs

Die Welt, 22. Januar 2000

Es ist keine fünfundzwanzig Jahre her, da waren Straßenfeste verboten, grelle Farben eine Seltenheit und die Strandgebiete weitgehend touristenfrei. Seit dem Tod Francos hat sich die Hauptstadt Kataloniens, die an Alternativkultur Madrid längst den Rang abgelaufen hat, zu einer sinnenfreudigen Metropole am Mittelmeer entwickelt. Seit Dionysos Franco in den Hades geschickt hat, kann man beinahe wöchentlich auf Open-Air-Festivitäten stoßen. Da wird der „Heilige Jordi“ gefeiert, wo man sich Blumen und Bücher schenkt, die majestätische Prachtstraße „Las Ramblas“ verwandelt sich in ein florales Meer und der Buchumsatz ist an diesem Tag höher als an jedem anderen in ganz Katalonien. Nachdem fettleibige Konvolute und üppige Sträuße ihren Besitzer gewechselt haben, gehen die Barceloneser ihrer, wie mir scheint, Lieblingsbeschäftigung nach: Krach schlagen. Mit bunten Plastikhämmerchen schlagen sich Hunderte von Einheimischen und Touristen in der Nacht vom 21. bis 22. März auf dem Kathedralenplatz auf die Köpfe – das weiche Plastik verursacht dabei keine Schmerzen, doch die vielen Rasseln im Innern der Hammer klingeln erquicklich. Keine Woche später tanzen feuerspeiende Drachen und andere Phantasiemonster wieder einmal die Ramblas entlang, heute haben selbsternannte Künstler, die gerne dort ihre „Werke“ feilbieten, Hütchenspieler und Schmuckverkäufer keine Chance. Überraschend dabei, mit welcher Leichtigkeit Gebote zu Brandschutzvorkehrungen umgangen werden: Man kann es sich als Mittel- oder Nordeuropäer kaum vorstellen, aber hohe Flammen schießen mitten auf der von dichten Bäumen gesäumten Straße hoch, kleine Kinder spielen mit den Überresten von Feuerwerkskörpern und Fackelträger tanzen betrunken in zerschlissenen Kostümen in der Menge herum. Ein Volk von Pyromanen: Die kürzeste Nacht des Jahres, im Juni, wird wie hierzulande Sylvester begangen, wobei man besonderen Gefallen an den lautesten Feuerwerkskörpern zu finden scheint. In dieser Nacht tanzen als Teufel – in barer Haut im Tanga-Höschen und mit Hörnern auf dem Kopf „Verkleidete“ – in Barceloneta, der ins Mittelmeer hineinreichenden Landzunge Barcelonas, auf welcher die Häuser so schmal wie die winzigen Gässchen zwischen ihnen sind. Unter archaischen Trommeln bewegen sich die Teufel und jonglieren mit ihren Fackeln. Je gefährlicher, desto schöner.

Drei Tage später findet in Sant Cugat ein Paella-Wettkochen statt. Mitten auf dem Marktplatz fangen siebzig Gruppen simultan an, die „beste Paella Barcelonas“ zu zubereiten. Gemüse, Reis und Meeresfrüchte werden mehr oder weniger direkt auf dem Boden oder auf mitgebrachten Brettern zubereitet, dann werden auf dem Pflaster Holzscheite errichtet, und das Brutzeln unter freiem Himmel kann beginnen.

Schließlich läuft man mit den riesigen Pfannen an den Juroren-Tisch, wo sich die sechs Ausgewählten schon die Lippen lecken. Ich kann es kaum glauben, meine Freunde haben den dritten Platz gewonnen und erhalten einen bombestisch aussehenden aber blechern klingenden „Pokal“.

Mit diesem „Pokal“ stiefelten wir später noch in Barcelonas neuesten Nacht-Club. Wie die Namensgebung verrät, ist nicht nur die Herrschaft Francos, sondern auch der Katholizismus zumindest in diesem Teil Spaniens ein Phänomen der Vergangenheit: „El coño de tu primo“ heißt der Club, zu deutsch: „Die Scheide deines Vetters“. Ein bunt-chaotischer schwullesbischer Club, der jedoch auch zum Mekka der Nacht für Heteros avancierte. „We!“ nennt sich programmtisch eine Gruppe junger Nichtlife-Producer, die in dem festlichen Theatersaal „Appolo“ vierteljährlich hinreißende Performance-Parties zelebrieren; man versucht künstlerisch interdiziplinär zu arbeiten in Barcelona: Autoren treten mit Bands auf, Musiker ziehen Videokünstler heran, Tanzwütige wollen auch etwas für den Kopf. Und Richard Meier, der amerikanische Star-Architekt spielt mit Konstrasten: Da wird der monumentale „weiße Riese“, das Museum für zeitgenössische Kunst, MACBA genannt, mitten in der filigranen Altstadt aus dem Boden gestampft.

Viel hat sich verändert, seitdem die Olympiade 1992 in Barcelona stattfand: Eine ganze „olympische Stadt“ wurde errichtet, deren unsensible Integration in das Stadtbild nach wie vor von vielen kritisiert wird. Auch der Hafen erhielt ein neues Anlitz: Die alten Industrieanlagen wurden zugunsten eines Touri-Areals mit Multiplex-Kino und „Maremagnum-Aquarium“ von Disney-Ausmaß abgerissen.

Ich kann nicht verhehlen, daß der verkommene Hafen mit den Frachtern nach Afrika mich mehr gereizt hätte, das ist das Los der Zuspätgekommenen: Ich kann den Wandel der Stadt nur noch an Residuen ablesen.

Da kommt mein Freund Guillermo die Straße entlang, einen eingewickelten Fisch in der Hand. Er ist ein lebendes Beispiel für die soziale Umstrukturierung Barcelonas, die seit dem Tod Francis stattgefunden hat: Seine Eltern, Kommunisten, flohen aus Südamerika vor der damaligen Diktatur in Uruguay, um sich im demokratisch werdenden Spanien (und im wirtschaftlich florierenden Katalonien) niederzulassen.

Die „Urus“ wie auch die „Argentinos“ und die „Brasileños“ bilden neben dem vor Armut geflohenen Andalusiern eine große Gruppe innerhalb der Bevölkerung. Dies hatte zur Folge, daß das politische und kulturelle Machtgefüge der Katalonier unterminiert wurde, denn die Südspanier wie auch die Südamerikaner haben kein besonderes Interesse an der Unabhängigkeit Kataloniens und der Ablösung von Madrid.

Wieso zieht es so viele Deutsche nach Barcelona? 13.000 sollen hier leben, ein Vielfaches der Zahl der Spanier in Berlin. Die relative Nähe zu Zentraleuropa, diie Kultur Kataloniens, die eine Brücke schlägt zwischen der französischen und der zum Teil als fremd erlebten, von afrikanischen und arabischen Einflüssen geprägten Kultur Andalusiens und der kurze Weg zu den Balearen mögen Gründe hierfür sein.

Für mich gibt es noch einen anderen: Es existiert eine Stadt oberhalb der Stadt in Barcelona. Ich spreche nicht von den Ausläufern der Pyrenäen, die Barcelona zur Landesseite hin umgeben, sondern von den unzähligen begehbaren Dächern und Terrassen, die beinahe jedes Haus zieren. Da wird geschrieben, getippt, getanzt, werden Luftballons geblasen und Hemden aufgehängt, lauthals Diskussionen geführt oder Julio Iglesias gehört. So verdoppelte sich auch mein Wohnraum, wenn ich von den trüben Tagen absehe, an denen mein Nachbar unser Dach in eine Tekkno-Meile verwandelte.

Beginnt man Gespräche mit der Dach- oder Straßenbevölkerung nimmt eines Wunder: Jeder Zweite scheint dem Beruf des Grafikers oder Designers auszuüben, und irgendwann kapiert man: Barcelona ist die Hauptstadt Spaniens, wenn nicht Europas, des modernen Designs. Im „Primavera del disseño“, dem „Frühling des Desings“, einer jährlichen Veranstaltung, stellen Hunderte von Galerien und Möbelgeschäften ihre neuesten Produkte vor. Und meine Mitbewohnerin ließ sich prompt zu einem neuen Zahnbürstenmodell inspirieren. Ob ich diese Zahnbürste tatsächlich benutzen würde, gehört nicht hierher. Wie konnte ich mich da noch wundern, als ich in diesen Tagen die Wohnung betrat und einen von Guillermo, Pedro und David gebauten „Spielplatz im Zimmer“ vorfand – in Dunkelheit leuchtende Flaschenpost, glitzernde Kinderpistolen und anderer Klimbim – in dem die drei jungen Männer sich sehr wohlzufühlen schienen.

Irgendetwas ist übriggeblieben vom Spieltrieb des Jugendstils, der die Stadt von Glanzleistungen wie Gaudis Parc Güell bis hin zu Details des Alltagslebens geprägt hat.

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