Lena – ein Konsensmädel sondergleichen (ZEIT Online, Mai 2010)

veröffentlicht auf ZEIT Online, Mai 2010

Deutschland repräsentiert sich mit Lena Meyer-Landrut auf die opportunste Weise. Denn die Deutschen sehnen sich nach einem neuen Selbstbild und nach mehr Menschlichkeit.
Schon mit dem Namen fängt es gut an. Lena ist seit einigen Jahren einer der beliebtesten weiblichen Vornamen in Deutschland. Meyer-Landrut – das klingt sehr deutsch und nach jedermann. Die vielen Tausend Meyers können sich besonders angesprochen fühlen. Und dann auch noch dieses „Land“ – da rockt das Herz der deutschen Provinz.

Vom Namen zur Person: In Zeiten der Krise und der negativen Schlagzeilen fehlt es den Deutschen an einer positiven Identifikationsfigur. Einst prestigeträchtige Berufe wie der des Bankiers oder Politikers haben erhebliche Sympathie– und Vertrauensverluste hinnehmen müssen. In diesen sozial „kalten“ Zeiten taucht, wie einst „das Wunder von Bern„, „das Wunder von Oslo“ auf: Eine junge „frisch und natürlich“ wirkende Frau, keine Demonstrantin, keine wütende Studentin, keine frustriert oder verbissen wirkende Vertreterin der „Generation–Praktikum“ und kein vom Kampf ums Gewicht gezeichnetes Klum–Möchtegernmodel – ein Wunder, das es so etwas hier in einer krisengeschüttelten Zeit überhaupt noch gibt.

Eine junge, hübsche, fröhlich wirkende Frau, die, unberührt von den rauen Seiten des Musikbusiness, der Unterhaltungsindustrie und des Kommerz, mitreißend von der Liebe singt – auf solch einem Satelliten, in solch einem Paralleluniversum wollten sich die Deutschen gefühlsmäßig schon lange verorten. Lena scheint ein bisschen den „besseren“ Deutschen zu verkörpern: Jung, optimistisch, lustig und frech (aber nur ein bisschen), aus gutem und intaktem Hause, moralisch einwandfrei, da unverdorben durch Money, Business & Politics (es hieß mal durch Sex, Drugs & Rock ’n Roll), mit Abitur. Anders als die DSDS–Anwärter aus der Unterschicht ist sie nicht ausschließlich erpicht auf Erfolg in einer Castingshow.

Lena personifiziert den nonkonformistischen Konformismus, der im gegenwärtigen Deutschland hoch im Kurs steht: Ein bisschen „anders“ möchte jeder sein, aber doch kein Außenseiter.

Die Deutschen, kinderarm und ständig in Sorge ob der Überalterung ihrer Gesellschaft, haben in einer jungen Frau, die eher wie ein Mädchen wirkt, ihr Wunsch– und Konsensbild gefunden. In Zeiten der Wirtschafts– und Wertekrise neigt man zu Eskapismen, und Selbstinfantilisierung ist eine ihrer Formen.

1982, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, kurz vor der Stationierung der Pershing–II–Rakten, war es die siebzehnjährige Nicole, die mit Ein bisschen Frieden siegte – heute die neunzehnjährige Lena mit ihrem nett–rockigen Liebessong. Hübsch und harmlos klingende Frauenzeitschriften– oder Jugendbuchnamen wie Nicole und Lenarekurrieren nicht nur auf den jeweiligen Zeitgeist, sondern immer auch auf die Privatwelt (in der man sich nur beim Vornamen anredet) und auf weiche Werte, auf Kuscheln und Cocooning.

Sie verweisen eben gerade nicht auf die Welt der Börsenkurse, politischen Querelen und schlechten Nachrichten. Die weibliche – oder auch kindliche – Satellitensphäre, oft genug ausgespart vom täglichen Kapitalgeschäft, stets ein bisschen auf der Nebenspur, muss den ramponierten Gefühlshaushalt der Nation ausgleichen.

Und jetzt hat Lena den Deutschen einen besonderen Gefallen getan: Deutschland erlebt gerade die schwierigste Zeit in der EU seit Langem. Griechen und Franzosen, und nicht nur sie, kritisierten die deutsche Wirtschaftspolitik fundamental. Schon wurde von verschiedenen Euro–Zonen gemunkelt. Einst waren es der Mauerfall und die deutsche Einheit, die die EU in ihrer gegenwärtigen Konfiguration überhaupt erst ermöglicht haben – ein wenig ist Deutschland die Geburtsnation der erweiterten EU.

Doch im Zuge der Wirtschaftskrise und einiger gravierender Fehlentscheidungen der schwarz–gelben Regierung mutierte das Kernland der EU,  zumindest aus Sicht einiger Mitgliedsstaaten, zum EU–Zerstörer. Das Klischee der Deutschen als gefühlsarme, kühl–effiziente Geschäftspartner (wir sprechen lieber von deutschen Tugenden) besteht seit eh und je und wurde in den letzten Monaten nicht gerade dementiert.

Einen besseren Zeitpunkt für einen deutschen „Sieg“ hätte es nicht geben können

Und jetzt das: In Oslo liefert Deutschland Europa den schönsten (Export–)Schlager, spricht die Herzen der Menschen von Island bis Zypern an – wer hätte das gedacht? Einen besseren Zeitpunkt für einen deutschen „Sieg“ hätte es nicht geben können. Kein Wunder, dass die sonst wenig schlagerbegeisterte Angela Merkel Klein–Lena überschwänglich gratulierte. Denn Deutschland repräsentiert sich mit ihr auf die derzeit denkbar opportunste Weise: Ein scheues, nettes Mädchen tritt da auf die Bühne – in schwarzem Kleidchen, fast im Aschenputtel–Look im Vergleich zu den Kostümierungen manch anderer Sänger und Sängerinnen.

Keine kalte Marlene–Diva erhebt die Stimme, keine „kühle Blonde“ oder „blonde Deutsche“ – vielleicht noch mit Westerwellscher Arroganz und Größenwahn –, sondern eine Brünette, die von ihrem Aussehen her beinahe aus jedem europäischen Land hätte stammen können. Ein Konsensmädel sondergleichen, eine junge, friedfertige, niedliche Deutsche, vor der niemand Angst haben muss.

Paradoxerweise ist es gerade ihr Dilettantismus, der Lena zum Sieg verholfen hat: Spontane Bewegungen zur Musik statt ausgeklügelte Bühnenshow, ein Ton darf auch mal knapp daneben sein (es gab vom Stimmvolumen und der Technik bessere Sänger in Oslo als Lena) – kurz: Authentizität statt perfektem Tanz und Gesang in Zeiten, in denen viele sich offenbar nach mehr „Menschlichkeit“ sehnen – und die Deutschen nach einem anderen Selbstbild.

Mit dem Ausgang des 55. European Song Contest ist Deutschland nicht mehr einsamer Satellit im europäischen Sympathie–Orbit, sondern zumindest für einen Moment Zentralgestirn. Und für die Deutschen hat, wenn nicht meteorologisch, so doch gefühlt, endlich der Sommer begonnen.

© Tanja Dückers, Mai 2010

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