Ist das autobiographisch? Essay über die Lieblingsfrage der Leser (Welt, August 2005)

Die Welt, 25. August 2005

Wenn man viele Lesungen hält, kommt man irgendwann nicht umhin festzustellen, daß es gewisse Fragen gibt, die sich im Anschluß an den eigenen Vortrag wiederholen.
Nach meiner immerhin über ein Jahrzehnt reichenden Erfahrung lautet die Lieblingsfrage: „Ist das autobiographisch?“
In gemessenem Abstand folgen: „Woran schreiben Sie jetzt?“, „Verstehen Sie sich als politische Autorin?“, „Wie arbeiten Sie eigentlich? Wie Thomas Mann, jeden Tag zu festgesetzten Zeiten?“ und – das ist eigentlich recht perfide – „Stört es Sie, daß man Sie so oft fragt, ob ein Text autobiographisch sei?“
Nachdem ich all dieses wieder und wieder nach Lesungen aus höchst unterschiedlichen Büchern, mit einer meinem Arbeitsethos (wer zu meiner Lesung kommt, wird gut behandelt, auch nachdem er aus Sicht der Autorin verwirrend törichte Fragen gestellt hat) entsprechenden Geduld beantwortet habe, begann ich mich doch selber zu fragen: Warum so oft „Ist das autobiographisch“?

Bei näherem Hinsehen ist das eine äußerst komplizierte Frage. Das erste Moment, das einem natürlich dazu einfällt, ist das des allgegenwärtigen Voyeurismus. Man sehnt sich nach dem gläsernen Autor, das über das Buch gebeugte Gesicht scheint immer interessanter als das dort beschriebene. Dieses Phänomen ist viel leichter durchschaubar als das der indirekten Geringschätzung der künstlerischen Leistung als solcher: Denn je länger man sich „Ist das autobiographisch?“ auf der Zunge zergehen läßt, desto mehr offenbart es eine Herabwürdigung des Autors und seiner Begabung: Gut ist, was authentisch ist; die künstlerische Leistung, sich etwas komplett auszudenken, zu fabulieren scheint weniger wertvoll zu sein. Spinnen kann ja jeder. Danke sehr!

Der nächste Ansatz ist ein textimmanenter. Vielleicht scheinen meine Texte in ihrer, wie oft behauptet wird, „barocken Detailliebe“, ihrer überschwenglichen Begeisterung für alles Hör, Riech- und Sichtbare, so auf Spiegelung der Realität angelegt, daß der Gedanke des selbst Erlebten sich eher aufdrängt als bei büchern anderer Autoren? Dem widerspricht jedoch, daß meine Protagonisten selten alter-ego-hafte Züge aufweisen, oft sind es Männer, Kinder oder alte Menschen. Wenn ich irgendwo selbst in Erscheinung getreten bin, dann als „Borddruckerassistentin Dückers“ an der Reling der Gustloff (in „Himmelskörper“) oder als nervig-neugierige Schriftstellerin, die aus den Augen von Gefängnisinsassen gesehen wird (in „Café Brazil“) – eine Randfigur eben, keine zwei Absätze wert.

Der auf Textimmanenz abzielenden These widerspricht auch, daß mir zahlreiche Autoren, die zum Teil literarisch ganz anders arbeiten, Ähnliches über die derzeitige Konjunktur von „Ist das autobiographisch?“ zu berichten wissen. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Phänomen: genauer gesagt, um die seit Jahren anschwellende Begeisterung für alles Authentische: Ob Reality-Shows im Fernsehen, Lebensbeichten bei „Domian“ oder Berichte über Bombenkrieg oder Flucht- und Vertreibungserlebnisse während des Zweiten Weltkriegs und danach. Authentizität scheint in einer Welt, in der man niemandem und nichts mehr trauen kann, eine höhere Weihe erhalten zu haben. Politiker haben im Vergleich zu früheren Jahrzehnten erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt, die Kirchen sowieso, große Dogmen erst recht. Was einem vermeintlich bleibt, ist das, was man am eigenen Leib erfährt: die Sinneseindrücke als letzte glaubwürdige Instanz. Das ist nicht das autonome, sondern das sensuelle Subjekt – sinnlicher Individualismus, Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein pur. Als letzter Glaubensgarant bleibt der Körper. Welcher im Moment auch noch in besonderem Maße gefeiert wird – im Zuge der hypeartigen Mode von biologistischen Thesen aller Art, sei es aus der Gender- oder der Altersforschung. Das Wort der Dekade oder vielleicht sogar des Jahrhunderts? Die Gene. Die Heilstheorie der Gegenwart? Die Hirnforschung!

Das Uneindeutige, Vage, Versponnene, Erträumte, Halbreale, Fiktive: kurz das Künstlerische steht im Moment nicht gerade in seinem Zenit, auch wenn allerlei Mega-Spektakel von langen Museumsnächten über Marathonlesungen einem das Gegenteil vorzuspiegeln versuchen. In einer Ära, die die Liebe auf das Vorhandensein von Geruchsrezeptoren und das Leid auf Mangel an Hirnbotenstoffen zurückführt, Schicksal einzig mit Zufall und Vererbung zu erklären versucht und den Tod aus der Komplexität organischer Vorgänge heraus zur allgemeinen Verwirrung nicht mehr zu definieren weiß, kann etwas so Unerklärliches, geradezu Anarchisch-Subjektives wie Kunst nicht mehr für voll genommen werden. Was nicht heißt, daß derzeit nicht relevante Kunst entsteht – es geht mir nicht darum, was für Kunst gemacht wird, sondern welche Bedeutung sie gesamtgesellschaftlich hat, wie sie wahrgenommen wird.

Romane müssen zunehmend journalistische Qualitäten aufweisen, „packend“ und „dicht“ sein, „spannend“ wie ein Erlebnistrip, eine Reise. Ja, Reiseberichte sind zur Zeit besonders gefragt. Und Krimis lesen sich ohnehin am besten.

Gedichte hingegen werden seltsamerweise am wenigsten der Authentizität verdächtigt, wie ich beim Vortragen meiner Lyrik feststellen konnte. In der einzigen literarischen Gattung, bei der die Frage: Ist das autobiographisch? am ehrlichsten mit „ja“ beantwortet werden könnte, wird diese Frage nie gestellt. Warum? Weil das selbst Erlebte meist nur noch dann „erkannt“ wird, wenn es in einer bestimmten, tausendmal vorgeführten Gestalt und Form „dargeboten“ wird.

Sind wir wirklich so weit gekommen, daß wir nur das für authentisch halten, was sich mimikryhaft als Realität gebärdet? Ist an der alten, langweiligen kulturpessimistischen Ansicht „Fernsehen verdirbt nicht nur die Augen“ nicht doch etwas dran? Können wir uns in einer visuell überdominierten Welt innere Wahrheiten kaum mehr vorstellen? Waren die Impressionisten und die Abstrakten weiter als wir, weil sie Realität anders, eigener, wilder und subjektiver definierten als wir mit unserer „Tagesschau“-Vorstellung von Wahrheit?

Vielleicht. Denn mit der Frage „Ist das autobiographisch“ ist natürlich auch eine bestimmte Erwartungshaltung verbunden. Nämlich – zu meinem Erstaunen – die Hoffnung, daß der Text eines Schriftstellers autobiographisch sei. Diese Hoffnung steht der des Autors diametral entgegen, der sich wünscht, die Realität zu überhöhen, transzendieren statt plump tagebuchartig abzubilden. Der Motor des Schreibens: Die Sehnsucht nach diesem alchimistischen Prozeß, Erfahrung zu Kunst gerinnen zu lassen, zu verwandeln (ein kleines bißchen Zauberer Sein zu wollen, wie Thomas Mann), die Erfahrung von sich zu verfremden ohne sie zu zerstören … den oft verschüttet-versteckten Erfahrungsnukleus einer Situation oder Konstellation vom Ballast und vom Beiwerk der „vollkommen realistischen Umstände“ zu befreien und solitär zum Leuchten zu bringen …

Der Schriftsteller, jenseits des modern gewordenen Talkshow-Teilnehmers, ist doch eher ein scheues Wesen, das sich das Aus-der-Realität-Flüchten zum Beruf gemacht hat, das schreibt, um die Realität – wenigstens auf dem Papier – zu verändern, nicht um sie zu repetieren. Daß sich Kunst heutzutage oft nur noch über den „Umweg Realität“ legitimieren kann, zeugt von einem fatalen und fundamentalen Mißverständnis zwischen Künstler und Publikum. Und von einer Verwechselung von Schreiben-Können mit talentiertem Nacherzählen.

Früher galt eine naturalistische Abbildung der Realität als profan. Die mittelalterliche Malerei kannte nur den goldenen Bildhintergrund. Die Maler der florentinischen Renaissance revolutionierten das Kunstverständnis ihrer Zeit, als sie Portraithintergründe mit gewöhnlicher Flora und Fauna füllten und die Zentralperspektive als „irdisches Maß“ in die Tafelmalerei einführten – Kunst wurde langsam von ihrer Aufgabe, religiöse Botschaften zu vermitteln, befreit und auf das menschliche Hier und Jetzt hin ausgerichtet. Doch das sich sehr langsam etablierende Genre der Landschaftsmalerei galt immer als ein wenig zweitklassig, und noch die ersten Fotografien wurden – Jahrhunderte später – skeptisch betrachtet.

Lange Zeit hatte die Kunst die zentrale Aufgabe, das darzustellen, was nicht sichtbar ist. Gott bzw. die Erfahrung Gottes, die Vorstellung vom Paradies sowie der Teufel und die Hölle wurden tausendfach auf Holztafeln und Leinwänden angerufen, beschwört, gebannt, verflucht; personalisiert durch irdische Vertreter, konturiert, ausgestaltet durch Landschaften, Licht und Dunkel. Viel später wurden – man denke zum Beispiel an Gauguin – geheimnisvolle innere Landschaften – oder, wie bei den Abstrakten Expressionisten – seelische Abgründe, Brachen, fast nicht mehr von dieser Welt scheinende Verschmelzungssehnsüchte (Rothko) und unbewußte Energien (z. B. Pollock) erkundet.

Heute hat sich dieses Verhältnis geradezu umgedreht: Bildende Kunst und Literatur sind Sklaven des Sichtbaren, des Objektivierbaren und damit auch, wie in der Pop Art gefeiert, des Banalen geworden. Bedeutet ein guter Roman denn heutzutage nur noch nacherzähltes Geschehen? Ich bleibe dabei: Eine Frage wie „Wie Sie die Demenz der alten Frau aus Sicht einer Enkelin beschrieben haben, das ist wunderbar, ganz realistisch, haben Sie das selbst erlebt?“ ist eigentlich eine viel größere Frechheit als „Sind Sie verheiratet?“

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