Glasnot auf kubanisch

Die Welt, 1. April 2008

Dem kleinen, unauffälligen Mann ist seine intellektuelle Brisanz auf den ersten Blick kaum anzumerken. Er trägt einen grauen Anzug und einen gleichfarbigen Schnauzbart wie viele ältere Herren auf Kuba. Nur Zigarre raucht er nicht. Auf einer Buchmessenparty in Havanna tanzt er ohne Berührungsängste mit einer Truppe junger Schauspieler, die gerade ein „Cabaret aléman“ mit Heiner Müller- und Brecht-Texten zum Besten gegeben hat. Dem fröhlichen Tänzer – tagsüber  ist Desiderio Navarro Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift „Criterios“ – ist es zu verdanken, dass auf der Bühne des „Cabaret flotante“, dem schwimmenden Cabaret, wie die sozialistische Insel manchmal spöttisch genannt wird, eine der aufregendsten Debatten seit Langem geführt wird.
Alles begann im vergangenen Jahr mit der Sendung „Impronta“ im kubanischen Staatsfernsehen. In dieser wurde der ehemalige Präsident des „Nationalen Kulturrates“, Luis Pavón Tamayo, interviewt und für seine Leistungen geehrt. Dabei ist Pavón verantwortlich für den „Quinquenio gris“, die „fünf grauen Jahre“, an die kubanische Künstler nur mit Schrecken zurückdenken. Pavón erließ 1971 so genannte „Richtlinien“, an die sich jeder Kulturschaffende zu halten hatte. Die restriktive Politik richtete sich gegen ausländische Einflüsse sowie gegen moralische Abweichungen: Rockmusik „westlicher Prägung“ galt ebenso als konterrevolutionär wie Homosexualität. Was die „fünf grauen Jahre“ angerichtet haben, offenbart sich in jedem Kunstmuseum und in jeder Buchhandlung auf Kuba. Zahlreiche bekannte Schriftsteller wie Herberto Padilla, José Lezama Lima und Virgilio Piñera gerieten damals ins Visier der Funktionäre. Und auch Desiderio Navarro.
Nicht nur wegen seiner persönlichen Erinnerung an diese Zeit, deren Grau auch noch auf die Gegenwart abfärbt, empörte sich Navarro über das Ehrung von Pavón, sondern auch aus Sorge um die Zukunft. Neo-Stalinisten würden versuchen, ein Machtvakuum auszunutzen, das durch den Abgang von Fidel Castro entstanden sei, schrieb er in einer Email an prominente Intellektuelle. Seine Internet-Debatte löste einen solchen Sturm an Solidarität und Entrüstung aus, dass selbst die Parteizeitung „Granma“ wenig später einen offenen Brief der offiziellen kubanischen Schriftstellervereinigung abdruckte, die Navarros Kritik unterstütze.
Dass Desiderio Navarro die Debatte auf Kuba ausgetragen hat und nicht von Florida oder Los Angeles aus ist einer der Gründe dafür, dass er derart viel Gehör fand. Es hat ihm Glaubwürdigkeit gegeben, dass er nicht emigriert ist. Und die „Granma“ hätte wohl kaum die Ansichten eines Exilkubaners abgedruckt.
Im Juli 2006 knüpfte niemand Geringeres als Raul Castro an die Debatte an, die Navarros Email ausgelöst hatte. In einer Ansprache am Jahrestag der Revolution rief er dazu auf, Missstände öffentlich zu diskutieren und Verbesserungsvorschläge einzureichen, was auch eifrig befolgt wurde. Mehr als eine Million Beschwerden trafen bislang bei den Behörden ein.  Statistisch gesehen hat fast jeder zehnte Bürger des Landes (Kinder mitgerechnet) eine Beschwerde vorgebracht. Seitdem wurden auf hunderten Versammlungen in einer bis dahin kaum gekannten Offenheit Probleme des Landes angesprochen – etwa wieso es zwei Währungen gibt. Die Löhne werden im fast wertlosen Peso nacional ausgezahlt, während begehrte Waren nur gegen den an den Dollar gekoppelten Peso convertible erhältlich sind. Da das durchschnittliche Monatsgehalt eines Kubaners nur umgerechnet 15 Euro beträgt, ist fast jeder auf Zugang zu Devisen angewiesen. Beschwerden wurden auch in Hinblick auf den äußerst eingeschränkten Kommunikationsaustausch laut. Und Raul Castro scheint seinem Volk Gehör zu schenken: Ab nächste Woche erlaubt der neue Staatschef Kommunikationstechnologien wie Computer und Handys. Noch unter Fidel Castor war selbst ein privater PC verboten, Handy- und Internetnutzung nur wenigen Bürgern mit einer Sondergenehmigung gestattet. Die Handynutzung muss allerdings im Prepaid-Verfahren in Devisen (Peso convertible) bezahlt werden. Das dürfte die Kubaner jedoch am wenigsten überrascht haben.
Mit der vorsichtigen Aufarbeitung der „Grauen Jahre“ und der Beschwerdewelle der Bevölkerung hat eine Tauwetterperiode eingesetzt. Der Lateinamerika-Experte Bert Hoffmann spricht von „Glasnost“ in Kuba. Und Desiderio Navarro ist überzeugt, dass ein „ein Sozialismus ohne Kritik und ohne kollektive Beteiligung“ keine Perspektive mehr hat. Seine Abrechung mit den „Neo-Stalinisten“ betrachtet er jedoch nicht als Abgesang auf den Sozialismus karibischer Prägung, sondern als Chance für die Insel. „Es gibt einen qualitativen Wandel in der sozialen Atmosphäre“, sagt er. „Dazu gehört auch die Vorstellung, dass Kritik und kollektiven Debatten fundamental sind für das Überleben des Sozialismus“.
Dass sich viele Kubaner ein langsames Reformtempo und keinen abrupten Regimewechsel wünschen, ist nicht unverständlich: sieben von zehn Kubanern kennen kein anderes Staatsoberhaupt als Fidel Castro. Verglichen mit anderen Ländern in der Region muss man konstatieren, dass Kuba in den vergangenen fünfzig Jahren bei aller Armut zumindest politisch stabil gewesen ist. Und so etwas wie Todesschwadronen hat es hier nicht gegeben. Auf der Nachbarinsel Haiti gibt es hingegen immer wieder blutige Unruhen. In Honduras, El Salvador und Guatemala fielen in den letzten 25 Jahren Hunderttausende Menschen Bürgerkriegen und politisch motivierter Gewalt zum Opfer. Selbst in den USA hat man kein Interesse an einem plötzlichen Kollaps des Systems und einer damit verbundenen Flüchtlingswelle.
Vordergründig hat sich auf Kuba nicht viel getan, seit Fidel Castro im Juli 2006 die Regierungsverantwortung „vorläufig“ an seinen Bruder Raul übertragen hatte. Doch unter der Oberfläche brodelt es, und in kleinen Zirkeln herrscht Aufbruchstimmung – vor allem in Havanna, wo ein Großteil der kubanischen Intellektuellen und Kulturschaffenden lebt. Nach 15 Jahren Verbot wurde nun der 1993 in Havanna gedrehte Spielfilm „Erdbeer und Schokolade“ (Originaltitel: Fresa y chocolate) des kubanischen Regisseurs Tomás Gutiérrez Alea im Fernsehen gezeigt. Dem Film war längst internationaler Ruhm zuteil gekommen, aber die Geschichte einer Freundschaft zwischen einem Schwulen und einem Nicht-Schwulen in Havanna, verbunden mit deutlicher Kritik an den Repressalien des Regimes, hatte dem Maxímo Lider nicht gefallen.

Nach dem von ihm initiierten „Email-Krieg“ veröffentlichte Navarro eine Streitschrift, die sich mit der Kulturpolitik des Landes befasst und gerade auf der diesjährigen Buchmesse in Havanna vorgestellt wurde. Die rund 600.000 Besucher der 17. Feria Internacional del Libro verwandelten die Messe in ein riesiges Volksfest. Die historische Festungsanlage „Fortaleza San Carlos de la Cabaña“ bot eine grandiose, wenngleich makabre Kulisse: Überall stehen alte Kanonen und, aus neuerer Zeit, ausgemusterte Raketen herum. Auf den Kanonen krabbeln Kleinkinder, küssen sich Teenager, sitzen rittlings Lesende. Die Feria hat im lateinamerikanischen Raum keinesfalls den Stellenwert der Messen in Buenos Aires oder Sao Paulo, denn hier finden kaum Geschäfte statt. Den isoliert lebenden Kubanern vermittelt die Buchmesse dennoch einen Hauch von Weltläufigkeit. Von den insgesamt 151 Ausstellern kamen 81 aus dem Ausland. Auch Deutschland war vertreten. Die Gemeinschaftspräsentation beherbergte insgesamt 100 Verlage und 450 Buchtitel – von Deutschlehrbüchern über Walter Kempowski bis hin zu den schrillen Comics der Berliner Gruppe Moga Mobo.
Und es scheint, dass sich auch auf der Buchmesse eine Hauch von Glasnot abzeichnet: Seit 2000 ist es dort Usus, zwei Intellektuelle besonders zu würdigen. In den letzten Jahren waren es auffallend oft Philosophen oder Schriftsteller, die während der „Grauen Jahre“ Opfer der extrem restriktiven Kulturpolitik des Landes wurden, denen nun die Ehrung zu Teil kam. Auch können die Kubaner auf der Buchmesse Bücher zu kaufen, die sonst nirgendwo erhältlich sind. Viele Menschen sagen „Die Feria ist im Grunde eine Freihandelszone“. Der Renner waren in diesem Jahr USB-Sticks mit Goethe-Konterfei und den besten Texte über Deutschland aus Desiderio Navarros Zeitschrift „Criterios“. Manch Käufer war jedoch mehr am USB-Stick als an Deutschland interessiert …
In die neue Glasnost-Stimmung passt auch die junge Künstlergruppe Omni Zona Franca aus Alamar bei Havanna. Der Name bedeutet ungefähr „Alle Freizone“. Die Künstler sind als „resistant poets“ bezeichnet worden, ihre Arbeit, die Malerei, Videofilme und Performances umfasst, als eine Form von „making noise and making trouble“. Im Jahr 2006 feierten sie zehn Jahre erfolgreiches Troublemaking. Allein ihre Graffiti-Kunst gilt als aufrührerisch, denn der größte Graffiti-Künstler des Landes ist Fidel Castro, dessen Sprüche überall Wände und Mauern zieren. Darüber hinaus sind sie als Veranstalter tätig, organisieren Literaturfestivals und betreiben mit ihren Internetcampagnen „Hacktivism“ (Lucrezia Cippitelli).
Auf den ersten Blick haben die vier Jungs mit den wilden Dreadlooks aus der Plattenbau-Trabantenstadt nichts mit Desiderio Navarro gemein. Doch sie verfolgen ähnliche Ziele – und auch sie haben die Insel nicht verlassen, obwohl sie die Gelegenheit dazu hatten. Die Behörden tolerieren mittlerweile die Omni-Gruppe, was lange Zeit nicht selbstverständlich war. Wer nicht auf einer der staatlichen Kunsthochschulen war, dem ist es nicht gestattet, einer künstlerischen Karriere nachzugehen. Die Omnis tun es trotzdem: Sie stellen sich an Bushaltestellen und lesen den Wartenden ihre Sicht auf die Welt vor – Klappstühle fürs Publikum haben sie gleich mitgebracht. Auf die defizitäre staatliche Müllabfuhr machen sie aufmerksam, in dem sie Müllberge auf der Straße aufschütten und als Kulisse für eine Performance verwenden. An die vielen Flüchtlinge, die auf klapprigen Booten oder Flössen in Richtung Florida aufbrechen, erinnern die Omnis, in dem sie eine Luftschwimmperformance mitten im Havanna abhalten. Ihre Arbeiten sind oft an konkrete Missstände, die im kubanischen Alltag sichtbar werden, gekoppelt. Einige Mitglieder von Omni Zona Franca landeten deshalb schon im Gefängnis. Im letzten Jahr wurde die Gruppe nach Deutschland eingeladen. Leicht hatten die Künstler es nicht: Vor ihrer Ausreise mussten sie mit Kulturfunktionären diskutieren, ob sie ein Gedicht, in dem der  Satz  „Der Häuptling liegt im Delirium“ vorkommt, aufsagen dürfen. Schließlich durfte die Truppe doch ausreisen. Natürlich hätte die Möglichkeit bestanden, im Ausland bleiben. Bei der Fußball-Qualifikation für Olympia Anfang März in Miami setzte sich ein Drittel der kubanischen Mannschaft ab. Die restlichen Spieler mussten in Unterzahl weiterkicken.
Ausgerechnet die unbequeme Omni-Gruppe kehrte zurück. Die Reise war ihnen sehr wichtig, sagen sie. Es sei für sie schließlich nicht einfach, mit der Welt in Kontakt zu kommen. Deswegen freuen sie sich auch über jeden Besuch, der „von draußen“ in ihren Bungalow kommt und neue Anregungen mitbringt. Sie wollen etwas verändern und dennoch auf der Insel bleiben. Die Fidel-Parole „Revolution heißt, all das zu verändern, was verändert werden muss!“, die man allerorts auf den Wänden lesen kann, wollen sie beim Wort nehmen.

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