Gewalt gegen Flüchtlinge (ZEIT Online, November 2015)

veröffentlicht auf ZEIT Online, November 2015

Die Angriffe von Paris verstärken in ganz Europa auch die Angst vor Flüchtlingen. Wahrscheinlich hat sich einer der Terroristen unter die Flüchtlinge gemischt und ist mit ihnen nach Europa eingereist. Die allermeisten Zuwanderer haben mit dem Terror natürlich nichts zu tun, im Gegenteil, sie sind vor Krieg und Terror geflohen. Aber ein oder zwei eingeschleuste Verbrecher reichen, um viele Menschen zu töten. Die Angst ist da.

Schon vor den Attentaten verunsicherten die Berichte über die vielen kriminellen Flüchtlinge die Menschen. Viele Deutsche fürchten sich deshalb nicht nur vor Dschihadisten, sondern auch vor Gewalttätern, vor Sozialhilfe-Abzockern oder vor den jungen Männern, die angeblich deutschstämmige Frauen vergewaltigen wollen. Umso wichtiger ist es, sich die Faktenlage vor Augen zu führen: Deutsche haben hierzulande weitaus weniger Grund, sich vor den Flüchtlingen zu fürchten als umgekehrt. Das bezeugt die Analyse „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“, die das Bundeskriminalamt (BKA) gemeinsam mit den Polizeien der Länder und mithilfe des Zolls im Auftrag des Bundesinnenministeriums erstellt hat (http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/11/lagebild1-im-kontext-zuwanderung-2015.html). Das Ergebnis: Flüchtlinge werden im Schnitt genauso wenig oder oft straffällig wie Vergleichsgruppen der hiesigen Bevölkerung. Es gibt durch Asylbewerber und Flüchtlinge keinen überproportionalen Anstieg der Kriminalität. Die Kriminalitätsrate ist zwar in absoluten Zahlen gestiegen, aber deutlich langsamer, als die Zahl der Zuwanderer. Der Großteil von ihnen begehe keine Straftaten, er suche vielmehr in Deutschland Schutz und Frieden.

Eine Sonderkommission in Braunschweig unter Leitung des Kriminaldirektors Ulf Küch, stellvertretender Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, kam zu einem ähnlichen Ergebnis (http://podster.de/episode/2715713). Nur sehr wenige Flüchtlinge werden straffällig – diese dann aber sehr oft. Unterrepräsentiert sind Tatverdächtige aus Syrien und Irak, überrepräsentiert hingegen Tatverdächtige aus Serbien, Kosovo und Mazedonien. Sie begehen Diebstähle, Einbrüche und Raubüberfälle. Immer wieder finden auch Massenschlägereien betrunkener Flüchtlinge in der Landesaufnahmebehörde statt. Darunter leiden dann aber vor allem andere Flüchtlinge: Familien mit kleinen Kindern, die so dringend Schutz vor Gewalt brauchen.

Umgekehrt aber wurden in Deutschland in diesem Jahr schon 490 Anschläge auf Asylunterkünfte verübt. Einzelne Flüchtlinge werden immer wieder Opfer von brutaler Gewalt: So ist am vergangenen Mittwoch eine 21-jährige Somalierin, die im achten Monat schwanger ist, im brandenburgischen Bad Belzig mitten am Tag vor einem Supermarkt krankenhausreif geschlagen worden. Unter Verdacht stehen nun drei Teenager: zwei Jungen im Alter von 14 und 15 Jahren sowie ein 14-jähriges Mädchen. Gegen sie wird derzeit wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Die Somalierin liegt nach wie vor schwer verletzt im Krankenhaus. Ob das Ungeborene überleben wird, weiß niemand.

Das Bundeskriminalamt wie auch verschiedene NGOs warnen schon länger vor weiteren schweren Gewalttaten aus dem rechten Spektrum. Ziel könnten Politiker werden, Betreiber von Flüchtlingsunterkünften oder einfach Menschen, die wie Flüchtlinge aussehen (http://web.de/magazine/politik/fluechtlingskrise-in-europa/gewalt-fluechtlinge-alarmiert-bka-31010508). Besonders bedrohlich ist, dass die ansonsten so heterogene rechte Szene sich im Kampf gegen die aktuelle Asylpolitik zusammenschließt. Oft genug wird Panik geschürt, um die Bevölkerung gegen die Neuankömmlinge aufzuwiegeln. So wurden falsche Flugblätter verteilt, auf denen zu lesen stand, dass Flüchtlingsfamilien bald auf Privathaushalte verteilt werden würden. In der um sich greifenden Sorge vor kriminellen Flüchtlingen zeigt sich der  Bundesinnenminister erfreulich entschlossen: „Damit Extremisten nicht mit Gerüchten und Halbwahrheiten Stimmung machen, müssen wir ihnen Fakten entgegenhalten“, kommentierte er die Zahlen vom BKA.

Die anhaltend hohen Flüchtlingszahlen und die damit verbundenen Herausforderungen haben natürlich Auswirkungen auf das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung. Diese kollektiven Ängste haben aber auch ihren Ursprung in der viel zu lang gepflegten Identität eines „Nicht-Einwanderungslands“. Das Versäumnis, Deutschland zu einem viel früheren Zeitpunkt als Einwanderungsland zu begreifen, ein entsprechendes Narrativ im Bewusstsein der Deutschen zu verankern und die Furcht vor Fremden zu mindern,  ist jetzt mit den Händen greifbar. Dabei waren  Fremde schon immer, man denke an die Hugenotten, Teil Deutschlands gewesen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs suchten zwölf Millionen Vertriebene im völlig zerstörten Land, unter weitaus widrigeren Umständen als jetzt,  eine neue Heimat. Vor knapp sechzig Jahren trugen die Gastarbeiter aus Griechenland, Italien, der Türkei und dem damaligen Jugoslawien mit zum Wirtschaftswunder bei. Die Wende – für die Deutschen eine spiegelbildliche Erfahrung von Fremdheit und Nähe –  bedeutete eine ungeheure Herausforderung und hat auch nicht zur Katastrophe geführt. Deutschland hat eine lange Geschichte als Einwanderungsland, hat viele Fremde beherbergt und integriert, viel Erfahrung darin, Neuankömmlinge zu integrieren. Die größte Gefahr geht derzeit nicht von ihnen aus, sondern von den menschenverachtenden Demokratiefeinden, die Menschen der Gefahr aussetzen, zu verbrennen, zu ersticken oder auf andere Weise zu Tode zu kommen. Hoffentlich hat Deutschland genug Erfahrung darin, diese Biedermeier und ihre Brandstifter im Zaum zu halten.

© Tanja Dückers, Berlin, im November 2015

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