Ferdinand Hodler: Die kranke Valentine Godé-Darel

art – das Kunstmagazin, Februar 2009

Das Bild der kranken Valentine Godé-Darel von Ferdinand Hodler ist vielleicht nicht eines der „schönsten“ Bilder, das ich kenne, aber eines der eindringlichsten. Über einen Zeitraum von einem Jahr fertigte Hodler geradezu obsessiv zahllose Portraits – Zeichnungen und Ölgemälde – von seiner schönen Geliebten an und begleitete sie auf diese Weise auf ihrem letzten Lebensweg. Das Thema Verfall und Tod hatte ihn schon oft beschäftigt, so 1882 in dem Gemälde „Die Lebensmüden“ und 1889 in „Die Nacht“, das ihm Weltruhm bescherte.

Hodler, ein Symbolist mit Jugendstilanklängen in seinem Spätwerk, zu dem „Die kranke Valentine Godé-Darel“ zählt, hat die Liegende nicht ohne Dramatik inszeniert: Das Rot der schweren Augenlider und der geöffneten Lippen findet sich im ganzen Raum wieder. Die Form der gelockten Haare taucht in Kreisen und Kringeln an anderen Orten im Bild auf. Man ahnt, wie die wohl Fiebernde von der Wildheit ihrer eigenen Vorstellungen überwältigt ist, inneres Erleben und äußere Wirklichkeit scheinen ineinander zu greifen. Kranksein wird nicht nur als Zustand der Schwäche und Hilflosigkeit begriffen, sondern auch als eine Stärke, als ein Zustand, der Visionäres zulässt. Das leichte Schielen der ebenso erregt wie entrückt wirkenden Valentine unterstreicht diesen Eindruck.
Hodler hat das Gesicht der Kranken mit größerer Genauigkeit wiedergegeben als ihre Arme und Hände. Somit vermittelt er dem Betrachter indirekt, die Kranke lebe fast nur noch in ihrem Geist, in ihren Träumen; sie hätte sich schon ein Stück weit in sich selbst zurückgezogen – in eine andere, flimmernde, unruhige Welt. Gleichzeitig hat man das Gefühl, dass nicht nur in der Wahrnehmung der Kranken Außen- und Innenwelt fast psychotisch miteinander verschmelzen, sondern dass auch für den Maler das Leiden der Valentine alle anderen Erscheinungsformen in ihrer Eigenart überlagert: Alles, das Bett, das Laken, die Wand, das Kissen, das Nachthemd, alles IST Valentine.
Etwas von der Heftigkeit, mit der sterbenskranke Menschen oft noch gegen den Tod aufbegehren, scheint in der Weise auf, in der Hodler seine kranke Geliebte allumfassend, raumgreifend, groß, unsterblich macht: Auf dem Gemälde allemal.
Doch ist das Rot kein Feuerrot, das Grün kein knospendes Grün, das Gelb kein Sonnengelb, sondern ein fahles. Die Augen der Kranken sind umschattet. Ihr Haarschopf von tiefstem Schwarz, indem das Rot der Fiebernden noch einmal aufflammt, bildet einen nach unten hin geöffneten Halbkreis, der das Gesicht der Kranken mit sicherem Griff zu umschließen scheint. Unverrückbar wie ein Helm, wie ein düsterer Heiligenschein sitzt dieser dunkle Haarschopf auf ihr.
Auf den in der Serie folgenden Bildern werden die Farben dunkler, die Formen aufgelöster – bald scheint Valentines Gesicht auf einer Landschaft aus Wolkenkissen zu schweben. Mit jedem Portrait scheint sich die Kranke weiter fortzubewegen.

Der Kunsthistoriker Felix Baumann hat über Hodler geschrieben: „Mit dem Zyklus der Valentine Godé-Darel hat sich Hodler ein Denkmal seiner Fähigkeit des Mitleidens, nicht des Mitleids, geschaffen, das seinesgleichen sucht.“
Und es ist wahr: Der Maler, der als Zwölfjähriger seinen Vater verlor und danach die Familie allein ernähren musste, hatte viele Erfahrungen mit dem Tod, dem Sterben erworben. Seine Portraits der Kranken lassen seine innere Beteiligung deutlich werden. Malend spricht er nicht nur von der Einsamkeit, des Für-Sich-Seins, der Kranken, sondern auch des Betrachters in der Ahnung dieser sich bald auftuenden Trennung.

Bis ich selbst den Tod eines nahen Angehörigen erlebte, dachte ich immer, die Sterbenden würden sich an die Lebenden klammern, wollten nicht allein gelassen werden in ihrem Leid. Aber ich merkte, sie wollen sich auch in sich selbst zurückziehen, für sich sein, jede Kontaktaufnahme, jede noch so kleine Situationsveränderung wird als Störung empfunden. Kommunikation ist etwas, das dem Menschen Kraft abverlangt, Kraft, die auch einmal nicht mehr vorhanden sein kann. Der Außenstehende, besonders der Liebende, spürt diese Kluft und kann doch nichts anderes tun als sich auf dieses Wenig einzustellen. Es ist der Gesunde an der Bettkante, ob malend oder schreibend, der sogar ein Stück weit folgen möchte, der eine Hand ausstreckt und dennoch einfach nicht weiter mitgehen kann. Der Autismus von Babys, die zunächst sehr „für sich“ sind und ihre Mutter noch nicht als Mutter, sondern als Brust, Milch oder Wärme wahrnehmen und der Autismus kranker und sterbender Menschen, die Formen der Grundkommunikation nicht mehr aufrechterhalten können, hat eine gewisse Ähnlichkeit. Für den Sterbenden scheint man auch irgendwann wieder zu nichts anderem als Wärme, Lufthauch und   Klang zu werden – in dem Vorstellungsvermögen des Sterbenden löst man sich ebenso auf wie er sich selbst psychisch depersonalisiert bevor er stirbt und sich körperlich desintegriert. Und so ist Hodler in seinen Bildern der Kranken dieser ganz untergeordnet, der Blick der Valentine ist niemals auf ihn gerichtet, nichts weist auf ihn hin – es ist eine demütige, nicht possessive Malerhaltung gegenüber dem weiblichen Körper, nicht unbedingt typisch für männliche Maler vor hundert Jahren (Munch wäre jedoch auch ein Beispiel hierfür).

Es gibt Momente wie die Einsamkeit neben einem Geliebten, der eingeschlafen ist – die Unmöglichkeit, gemeinsam zu träumen oder auch die Unmöglichkeit, den Weg des anderen in den Tod wirklich zu verstehen und zu teilen – es ist die existentielle Einsamkeit des Menschen, die in solchen Momenten der Trennung aufscheint und die sehr schwer künstlerisch einzufangen ist – Hodler ist es gelungen.

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