Europa – eine transnationale Heimat? (ZEIT August 2015)

Europa – eine transnationale Heimat?

Von Tanja Dückers

 

Mit der Vorstellung, nicht nur eine nationale, sondern auch eine „europäische Identität“ zu besitzen, tun sich viele Europäer schwer – auch wenn das Thema „Europäische Identität“ im öffentlichen Diskurs spätestens seit der EU-Osterweiterung omnipräsent ist. Eine Erinnerung an eine Dienstreise aus dem Jahr 2005 soll hierfür ein Beispiel geben: Ich sollte damals für die ZEIT vom Weltjugendtag in Köln berichten. Papst Benedikt XVI, gerade erst zum Kirchenoberhaupt gewählt, war zu diesem Ereignis zum ersten Mal in seiner Amtszeit nach Deutschland gereist. Dass ich auf dem Weltjugendtag mehr über Nationalismen und die Haltung zu Europa erfahren sollte statt über den auf dem Weltjugendtag ziemlich im Hintergrund agierenden Papst und den Stand des Christentums heute, war mir vorher nicht bewusst. Jenseits aller christlichen Ideale von Gleichheit, Demut und Bescheidenheit drängte in Köln die Bedeutung von Identität und Nationalbewusstsein mit ungestüm-jugendlicher Vehemenz in den Vordergrund, war das beherrschende Erlebnis. Die Stimmung war nicht anders als beim Public Viewing während einer WM: Hier skandierten junge Leute mit riesigen blau-weiß-roten Fahnen „Vive la France“, dort stimmbruchlastig „Bälla Italia!“, weiter hinten grölte eine Hundertschaft unter einem rot-weißen Fahnenmeer: „Polska!“ Man winkte sich mit den Fahnen zu, man hüllte sich von Kopf bis Fuß in sie ein, man trug Stirnbänder mit dem nationalen Erkennungszeichen. Neben der unübersehbaren Bedeutung nationaler Identität für die globalen Pilger fiel auch die Tendenz zum Partikularen, zum Regionalspezifischen auf: Wer aus Bayern kam, hielt die bayrische und nicht die deutsche Fahne hoch, wer aus Krakau angereist war, schrieb „Kraków“ auf seine Polen-Fahne. Auf einmal entdeckte ich inmitten dieses Fahnenmeers etwas Seltenes, eine rare Spezies: Gelbe Sterne auf nachtblauem Grund, kaum vom funkelnden Abendhimmel über Köln zu unterscheiden, schüchtern zwischen all dem Stars n’ Stripes, dem Ordem e Progresso, dem Rot-Weiß und dem Schwarz-Rot-Gold: – einsam wehte da die Europa-Fahne. Unter Hunderttausenden von Flaggen sah ich – im Jahr der EU-Osterweiterung (2004) – nur diese eine Europa-Flagge. Die Hüter des Schatzes waren Franzosen. Ich sprach sie an: „Ihr seid hier die einzigen mit einer Europaflagge …“ – „Ja, niemand weiß hier, woher wir kommen, das ist schon ein Problem, alle gucken uns blöd an, manche sagen auch … Doofes zu uns über die EU, aber … ehrlich gesagt: wir mögen wir die europäische Idee.“ Dem folgte ein ängstlicher Blick über die Schulter, ob irgendjemand hören könnte, was sie hier so Ketzerisches von sich gaben.

Wirklich geändert hat sich in der letzten Dekade hinsichtlich der Popularität der europäischen Identität nichts. Im Gegenteil: Das Erstarken rechtsextremer Parteien bei der letzten Europawahl im Mai 2014 zeigte deutlich den Trend zur Renationalisierung. Und nun soll, nein muss, dieses ebenso diffuse wie mäßig populäre europäische Identitätsgefühl auch noch bereichert werden, um eine Vorstellung von Europa, die Migranten und andere stärker inkludiert. Leicht wird diese Aufgabe nicht sein, aber es gibt keine andere Möglichkeit, als sowohl für Deutschland als auch für Europa eine Identität als Einwanderungsland, Einwanderungskontinent zu kreieren, so wie vormals die USA, Kanada und Australien ein Selbstbild als Einwanderungsländer von sich gepflegt haben.

Doch bevor ich über einen erweiterten europäischen Identitätsbegriff spreche: Dass Deutschland ein Einwanderungsland und Europa ein Einwanderungskontinent geworden ist, ist bei vielen Bürgern noch nicht angekommen. Dabei Deutschland aufgestiegen in die erste Liga der Einwanderungsländer, neben den USA, Kanada und Australien. Diese Unkenntnis und Ablehnung ist derzeit die größte Hürde in der Etablierung einer europäischen Identität, die Migranten miteinschließt: Die Aussage „Zuwanderer, die hier leben, bedrohen meine persönliche Lebensweise und meine Werte“ stößt bei vielen Europäern auf Zustimmung, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie („Die Abwertung der Anderen“) der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt. Das Ergebnis der FES-Studie: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, abwertende Einstellungen und Vorurteile gegenüber als „fremd“ oder „anders“ Empfundenen, ist in Europa weit verbreitet. In den Niederlanden stießen die abwertenden Aussagen auf die niedrigsten Zustimmungswerte, in Polen und Ungarn auf die höchsten. Für Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit und Rassismus ermittelt die FES-Studie nur geringfügige Unterschiede zwischen den Ländern. Die Europäer vereint offenbar die Ablehnung von Fremden: „Rund die Hälfte aller europäischen Befragten ist der Ansicht, es gebe zu viele Zuwanderer in ihrem Land“, heißt es in der Studie.

Rund die Hälfte verurteilt den Islam zudem pauschal als Religion der Intoleranz. Selbst in den osteuropäischen Ländern, in denen der Anteil der Muslime an der Bevölkerung gering ist, herrschen Vorurteile und Ablehnung. Der Islam steht unter Generalverdacht. Vor allem in Deutschland und Polen erklärt eine Mehrheit, dass der Islam nicht mit der eigenen Kultur kompatibel sei.

Ein weiteres Bespiel liefert der Umgang mit Flüchtlingen. Einen Vorgeschmack bot schon die Flüchtlingsdebatte im Zusammenhang mit den Revolten in den arabischen Staaten. Die Migranten, die in Italien landeten, lösten hys­terische Diskussion darüber aus, ob in Bayern und Österreich wieder Grenzkontrollen erfolgen sollten. Bei der Migrationsdebatte setzt sich die Renationalisierung der europäischen Politik fort, die sich seit Beginn der Währungs- und Finanzkrise abzeichnet. Immer mehr pochen die EU-Regierungen auf ihre jeweiligen nationalen Interessen – oder was sie im Zweifelsfall dafür halten. Stimmung gegen Flüchtlingen zu machen, kommt vor Wahlen gut an – und irgendwo sind immer Wahlen in Europa.

Einer der wenigen Politiker, die sich positiv und zukunftsgerichtet über die Zuwanderung äußerten, ist der deutsche Außenminister. Franz Walter Steinmeier sagte auf einem Podium in Berliner Gorki-Theater, dass Deutschland sich nun endlich als Einwanderungsland begreifen und seine Identität um dieses Faktum bereichern müsse. Vielen Bürgern ist nach wie vor nicht klar, dass Immigration für Deutschland vollkommen unvermeidlich ist. So schrieb der Wirtschaftsressort-Chef der „WELT“-Gruppe, Olaf Gersemann, in seinem im Herbst 2014 erschienenen Sachbuch „Die Deutschland-Blase. Das letzte Hurra einer großen Wirtschaftsnation“, dass Deutschland pro Jahr 400.000 Zuwanderer aufnehmen müsse, um seine Bevölkerungszahl stabil halten zu können. Doch in der Etablierung eines positiven Selbstbildes als Einwanderungskontinent liegt für Europa nicht nur eine ökonomisch-demographische Notwendigkeit, sondern auch eine identitätsbildende Chance: Wir haben in den vergangenen Jahren gemerkt, dass allzu bemühte Versuche, eine nationale oder eine europäische Identität, die sich aus einzelnen Eigenschaften („Christ“, „Demokrat“ etc.) konstruieren lässt, nicht überzeugend ist. Auch wenn es immer einige Verirrte gibt, die versuchen, daran festzuhalten. Es sei hier an die unselige „Leitkultur-“Debatte erinnert, im Zuge derer darüber gestritten wurde, ob das Christentum nun identitätsstiftend für Deutsche sei oder nicht. Es wurden Trennlinien zwischen Christen und Muslimen gezogen, vollkommen ungeachtet der Tatsache, dass sich in Deutschland mittlerweile fast die Hälfte der Menschen von den christlichen Kirchen abgewandt hat. Und ungeachtet vom Lebensstil religiöser Menschen: Ein strenger Katholik hat möglicherweise hinsichtlich von Wert- und Moralvorstellungen viel mehr mit einem tiefgläubigen Muslim gemeinsam als mit seinem atheistischen Nachbarn, der ständig auf Techno-Partys geht. Die Leitkulturdebatte war soziologisch betrachtet sehr armselig, und es wundert nicht, dass sie zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hat: In den grob pauschalisierenden Schemata hat sich letztendlich kaum ein Bundesbürger wiedergefunden.

Darüberhinaus hat es zahlreiche Versuche gegeben, sich nicht affirmativ zu einer Identität zu bekennen, sondern eine europäische Identität lediglich über Abgrenzung zu konstruieren. In Erinnerung gerufen werden soll hier die im SPIEGEL geäußerte Vorstellung des Schriftstellers Durs Grünbein, die Europäer seien an sich friedliebender und zivilisierter als die Amerikaner. Mit einem Blick auf das 20. Jahrhundert fällt die Vorstellung der friedlichen Europäer wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Auch der äußerst brutal geführte jugoslawische Bürgerkrieg, in dem Männern zum Teil die Hoden abgeschnitten oder sie gezwungen wurden, aus Benzinkanistern zu trinken, hielt Grünbein nicht von seiner Diagnose der zivilisierten Europäer ab. Auf nicht wenigen Tagungen und Konferenzen musste man sich anhören, was die Welt von Europa lernen könne und warum Europa der Hort der Demokratie, der Menschrechte und der Toleranz sei. Während dieser selbstgefälligen Diskussionen wurden gerade anderswo in Europa griechischen Rentnern die letzten Drachmen weggenommen, Nordafrikaner in Spanien beinahe zu Tode geprügelt, Slowenen in Italien aus Vereinen ausgeschlossen, weil sie keine Italiener sind, wurde türkischen Mitbürgern in Berlin der Mietvertrag für ein Gartenhäuschen in einer Kolonie verweigert, wurden deutsche Gastarbeiter in der Schweiz lächerlich gemacht, und so weiter.

Andere sogenannte öffentliche Leitfiguren stimmten der aus Amerika stammenden, griffigen, schlicht-dualistischen These zu, die Amerikaner würden vom Mars sein, die Europäer von der Venus. Gleiches wurde auch schon über Männer und Frauen behauptet, was die Dürftigkeit dieser Vorstellung nur noch deutlicher macht.

Die Neigung der Europäer, sich nur dann als Europäer zu fühlen, wenn man andere (Amerikaner, Chinesen, Russen…) kritisieren kann, zeugt von einem großen Wunsch nach einem Identitätsgefühl, das offenbar kaum vorhanden ist.

Was bedeutet es nun für die labile europäische Identität, wenn sie noch um eine Facette erweitert wird? Es bedeutet zunächst, dass stärker Abstand von „wir sind nicht-“Definitionen genommen werden muss. Exkludierende „Wir sind nicht Muslime, nicht Inder, nicht Afrikaner“ etc.-Identitäten werden noch weniger plausibel und wahr sein. Berufen muss sich Europa stattdessen auf seinen Platz in der Welt als Hub, als Drehkreuz zwischen Ost und West, als internationaler Handels- und Umschlagsplatz, als melting pot. Europa war schon immer eine Region des regen Handels, des Vielvölkeraustausches, der Erfindungen durch den Kontakt mit Anderen, des Austausches und der – auch kriegerischen – Auseinandersetzungen. Es gibt keine Gegend in der Welt, in der so viele von der Fläche her kleine Länder eng beieinander liegen, es gibt keine Region, die durch ihre Geographie so kleinteilig, kleinflächig und ineinandergreifend ist. Europa ist nach Australien der kleinste Kontinent und eine in Bezug auf die Fläche besonders dicht besiedelte Region der Erde, wenn man einmal von Nordskandinavien oder dem zentralspanischen Hochland absieht. Es hat keinen Sinn, die Europäer zu friedfertigen Menschen umzuinterpretieren, ehrlicher wäre es, Europas äußerst kriegerische Vergangenheit als bittere Wahrheit anzuerkennen.

Dass die Europäer sich schwer damit tun, eine europäische Identität festzulegen, kann nicht verwundern. Zu viele Einflüsse haben allein historisch (man denke an die Mauren in Spanien oder die über ein halbes Jahrtausend währende türkische Herrschaft in Bulgarien) den Kontinent geprägt. Mit ausschließenden Begriffen trifft man nur geschichtliche Falschaussagen. Europa kann sich nur als reger, unruhiger Marktplatz der Welt, als Vielvölkerstaat, begreifen, kann nur einem nomadisierenden Transnationalismus vertreten. Der Europäer ist, wenn er diese Offenheit bei sich selbst zulässt und nicht wie die Pegida-Anhänger aus Angst verleugnet, dann qua Geburt ein Multikulturalist.

Es war der Anfang 2015 verstorbene Soziologe Ulrich Beck, der als einer der ersten den Europäer als Kosmopolit gedacht hat: Nach Beck – und auch Habermas – ist Europa von der Konzeption her das fortschrittlichste politische Gebilde in einer Welt zwischen nationalistischen Rückbesinnungen und überall sichtbaren, wirtschaftlich forcierten Globalisierungs- und Entgrenzungsphänomenen. Doch für Beck bedeutete Europa nicht das Ende der alten Nationalstaaten. Er meinte, das neue Europa werde das alte in sich bergen und zugleich sanft verändern. Das Eine – die transnationale Identität – schließt das Andere – die Herkunftsidentität – nicht aus.

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen über das Becksche Matroschka-Prinzip („die europäische Identität beherbergt die nationale Identität, die nationale Identität beherbergt die regionale Identität“) hinaus. Und hier schließt mein Begriff vom „nomadisierenden Transnationalismus“ an. Was ist damit gemeint? Dieser Begriff deutet zunächst an, dass die Europäer historisch betrachtet fast überall in einem Gebiet multipler kulturell-ethnischer Differenzen aufgewachsen sind. Der nomadisierende Transnationalismus ist nicht zu verwechseln mit Antinationalismus. Während der Antinationalismus zwar sympathisch daherkommt, aber den Menschen eher etwas wegnimmt als etwas schenkt, bereichert der nomadisierende Transnationalismus. Er bedeutet, dass ich – und ich spreche jetzt tatsächlich von meiner eigenen Person – stolz auf den „rheinischen Humor“ bin, den mein Vater in unsere Familie gebracht hat. Wenn ich im Münsterland bin, nehme ich meine mütterlich-westfälische Seite wahr und vertrete, zurück in meiner Heimatstadt Berlin, mit Verve Pumpernickel und andere westfälische Spezialitäten. Ein Teil meiner Identität beruht auf rheinischen und westfälischen Wurzeln. Ich bin aber in Berlin geboren und aufgewachsen, später ein Jahr in den USA zur Schule gegangen. Ich habe die Geschichte Berlins immer als faszinierend empfunden, Filme, die Berlin in Trümmern zeigen, tun mir beinahe physisch weh, so sehr identifiziere ich mich mit meiner Heimatstadt. Doch seitdem ich in den USA gelebt habe, kann ich Enge nicht gut ertragen, habe die Sehnsucht nach Weite und Licht übernommen. Und zum Frühstück gibt es seitdem öfter mal Toastbrote mit Peanutbutter und Marmelade obendrauf. Scheinbar Banal-Kulinarisches steht neben weniger Banalem: Ich ertrage undifferenzierten Antiamerikanismus nicht – schon gar nicht von Menschen, die nie einen Blick in die amerikanische Verfassung geworfen haben, oft das Land nicht einmal kennen. Ich bin gegen die NSA-Affäre vors Bundeskanzleramt gezogen und habe dort demonstriert und verstehe mich doch als linke Transatlantikerin. Später habe ich noch in einigen anderen Ländern gelebt, vornehmlich in Osteuropa, aber auch in Spanien. Doch so viele Auslandserfahrungen sind keinesfalls notwendig, um einen nomadisierenden Nationalismus zu pflegen. Es reicht die Klassenfahrt, die Urlaubsreise, die Brieffreundin, der Chatpartner, manchmal auch nur die Vorstellung von einem Land (denn Nationalismus ist immer höchst subjektiv und irrational), um zu einem erweiterten Identitätsverständnis zu gelangen.

Der nomadisierende Transnationalist ist kein postmoderner Anything-goes-Mensch, denn er nimmt nur an, was er kennt, selber erfahren hat. Er baut nicht in eklektizistischer Manier Scheinwelten zusammen, sondern sucht sich aus, worauf er – nur er, als Individuum – stolz sein möchte, was ihm an unterschiedlichen Ländern, in denen er gelebt oder die er besucht hat, imponiert. Und diese Dinge geraten ihm als innere Leitlinie. Ein Zuwanderer liebt nicht die politischen Verhältnisse sagen wir mal in Eritrea, nur weil er aus Eritrea stammt und lange Zeit nichts Anderes gekannt hat. Von diesem Gewohnheitsdenken versucht er sich zu lösen. Aber er muss die deutsche Küche auch in dreißig Jahren noch nicht so mögen wie die eritreische. Er kann sich daran gewöhnen, mit Messer und Gabel zu essen, aber eigentlich isst er sein warmes Gemüsefladenbrot lieber mit den Händen. Er ist kein Nihilist, dem kollektive Werte, Errungenschaften oder Leistungen nicht interessieren, vielmehr verteidigt er bestimmte „Qualitätsmerkmale“ einer Region oder eines Landes vor anderen Menschen. Aber er ist in seiner Entscheidung darüber, was er für zugehörig zu sich hält, nicht an seinen Pass gebunden, nicht an seinen Wohnort und an keine Landesgrenzen.

Mit solch einem weltoffenen Verständnis von nationaler Identität können sich auch Migranten hier zuhause fühlen. Allerdings setzt es von ihnen voraus, offen zu sein, den eigenen Identitätsbegriff erweitern, modulieren zu können und zu wollen. Natürlich kann man in Europa praktisch wie identitär auf einer einsamen Insel beziehungsweise in einer Parallelgesellschaft leben. Aber die Abgrenzung kostet Kraft, bedeutet Isolation und kulturelle Selbstverarmung.

Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, zu der natürlich auch die Renationalisierung und der neue Rückzug in die Provinz gehören, lässt sich nicht leugnen: Hierzu schreibt die Frankfurter Politikwissenschaftlerin und Journalistin Antje Schrupp in der FAZ „Die Diversifizierung des Menschenbildes vollzieht sich (….) nicht nur entlang der Geschlechterdifferenz, sondern auch entlang anderer demografischer Merkmale wie dem Alter oder der Religion, der sexuellen Identität, der Körperformen und so weiter. Bei allen diesen Aspekten gibt es ein starkes Bedürfnis der bislang Unsichtbaren, der ehemals Marginalisierten, endlich gesehen und in ihrer Differenz anerkannt zu werden. Sie wollen in der Öffentlichkeit präsent sein, benannt und berücksichtigt werden. Dicke Menschen stellen Fotos von sich ins Internet und bloggen über ihre Körpererfahrungen, Musliminnen tragen häufiger als früher Kopftücher, alte Menschen verheimlichen nicht mehr ihr Alter, Schwule und Lesben heiraten und feiern ihre Liebe öffentlich.“

Der fortschreitenden Diversifizierung des Menschenbildes schließt sich ein individualisierter oder nomadisierender Nationalismus, der, weil er nicht auf eine homogene Gruppe rekurriert, weder ein-noch ausschließen kann, kongenial an.

Trotz aller Anerkennung von großen und kleinen Unterschieden gibt es dennoch einige Begriffe, auf die sich Europa in toto, jenseits der von mir skizzierten Eigenschaften als Hub, Drehkreuz und Handelsplatz, einigen kann und die Teil eines weltoffenen kollektiven europäischen Nationalgefühls sein können. Um jetzt nicht alle historisch verbindenden Erfahrungen von der Renaissance bis zum Dreißigjährigen Krieg zu referieren, konzentriere ich mich hier auf das 20. Und 21. Jahrhundert: Die gemeinsame Erfahrung vom Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie vom Holocaust sind prägende kollektive Erlebnisse für alle Europäer. Die bipolare Weltordnung zu Zeiten des Kalten Kriegs ist, wenngleich auf unterschiedliche Weise, von West-, Mittel- und Osteuropäern ebenfalls erlebt und erlitten worden. Das Gleiche gilt für den Mauerfall und die Aufhebung der Trennlinie, die durch Europa führte. Bis auf Weißrussland sind alle europäischen Länder Demokratien (das politische System Russlands kann als autoritärer Staat oder, vergleichsweise euphemistisch, als gelenkte Demokratie bezeichnet werden). Dies ist eine zentrale identitätsstiftende Gemeinsamkeit. Ferner haben, bis auf Weißrussland, alle europäischen Länder die Todesstrafe abgeschafft (dies ist nicht a priori ein Signum von Demokratien) und pflegen zumindest auf Gesetzesebene eine minderheitentolerante Politik. Und: In Europa herrscht – mit Einschränkung – eine Trennung von Staat und Religion vor. Auch wenn hier noch einiger Reformbedarf besteht und z.B. der deutsche Staat immer noch für die christlichen Kirchen die Steuern eintreibt, Religionslehrer und kirchliche Kindertagesstätten bezahlt, Bistümer unterhält und so weiter. Diese wenigen, aber äußerst wichtigen übergreifenden Merkmale der europäischen Staaten müssen von Migranten zumindest anerkannt werden, um sich ihrerseits zugehörig zu fühlen.

Es ist zu hoffen, dass sich möglichst viele Europäer der Idee eines migrantenfreundlichen Kontinents öffnen und an einer europäischen Identität gestaltend mitwirken, die begrifflich und mental nicht zu eng gefasst ist, um auch Menschen von anderen Kontinenten prinzipiell die Chance zu geben, sich hier identitär zugehörig fühlen zu können – als Europäer im Sinne eines nomadisierenden Transnationalismus.

 

 

 

 

© Tanja Dückers, Berlin, Uckermark, Januar-August 2015

 

 

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