Die Rückkehr des L-Wortes – Zur Leitkulturdebatte (ZEIT Online, Oktober 2015)

veröffentlicht auf ZEIT Online, Oktober 2015

Die CSU fordert angesichts der Flüchtlingskrise wieder deutsche Leitkultur. Doch wie soll man einem Syrer erklären, was deutsch ist? Wir wissen es ja nicht mal selbst.

Gerade hat CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer mal wieder die „deutsche Leitkultur“ bemüht. Die ankommenden Flüchtlinge sollen sie, neben dem Grundgesetz, anerkennen. Anders als vor Jahren kommt diese Forderung diesmal nicht nur von Mitgliedern der CDU oder CSU. Auch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat sie in der vergangenen Woche erwähnt.

Es mag wichtig sein, in der derzeitigen Situation darüber zu sprechen, wie die Integration der Neuankömmlinge gelingen kann. Doch die Debatte um eine deutsche Leitkultur wird auch mit der großen Zahl an Flüchtlingen nicht weniger unpassend und peinlich als damals.

Erinnern wir uns: Damals wurde noch darüber gestritten, ob das Christentum nun identitätsstiftend für Deutsche sei oder nicht. Der CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt hatte Trennlinien zwischen Christen und Muslimen gezogen, und dabei die Tatsache ignoriert, dass sich in Deutschland mittlerweile fast die Hälfte der Menschen von den christlichen Kirchen abgewandt hat. Auch der Lebensstil religiöser Menschen wurde nicht beachtet: Denn ein streng gläubiger Katholik ähnelt möglicherweise in seinen Wert- und Moralvorstellungen viel mehr dem streng gläubigen Muslim als dem atheistischen Nachbarn.

Die Leitkulturdebatte kam, wenig erstaunlich, zu keinem befriedigenden Ergebnis: In den grob pauschalisierenden Schemata hat sich kaum ein Bundesbürger wiedergefunden. Schon damals gab es keine Einigkeit darüber, wer von beiden nun – Goethe oder Dieter Bohlen – eher für die Identität der Deutschen stehen würde. Eine neue Leitkulturdebatte wäre in Deutschland in jedem Fall wieder zum Scheitern verurteilt.

Identität ist etwas Individuelles

Wir sollten uns stattdessen lieber fragen, wie viel kollektives Identitätsempfinden überhaupt nötig und zeitgemäß ist. Reicht es nicht, wenn sich alle hier lebenden Menschen, ob Einwanderer oder Deutsche,dem Grundgesetz verpflichten? Denn Identität ist zuvörderst etwas Individuelles, Singuläres, Privates. Es gibt 82 Millionen verschiedene Weisen, deutsch zu sein – zwischen Goethe und Dieter Bohlen.

Lohnen würde es sich außerdem darüber zu diskutieren, wie wir zu einer transnationalen Identität finden können, die auf gemeinsamen Werten basiert. Dafür müssen wir zunächst Abstand von all den Wir-sind-nicht-Definitionen nehmen. Eine Identität, die nur darauf basiert, andere auszuschließen wird in Zukunft immer weniger plausibel und wahr sein. „Wir sind nicht Muslime“ stimmt jedenfalls schon jetzt nicht mehr.

Der Europäer ist Multikulturalist

Berufen muss sich Europa stattdessen auf seinen Platz in der Welt als Drehkreuz zwischen Ost und West, als internationaler Handels- und Umschlagsplatz, als melting pot. Europa war schon immer ein unruhiger Marktplatz der Welt, eine Region des Handels und des Völkeraustausches. Erfindungen kamen durch den Kontakt mit anderen zustande. Viele Einflüsse haben allein historisch (man denke an die Mauren in Spanien oder die über ein halbes Jahrtausend währende türkische Herrschaft in Bulgarien) den Kontinent geprägt. Der Europäer ist eigentlich qua Geburt ein Multikulturalist.

Syrer, Deutscher, Europäer

Der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck hatte als einer der Ersten den Europäer als Kosmopolit gedacht. Europa sei, zumindest als Konzept, das fortschrittlichste politische Gebilde in einer Welt zwischen den wirtschaftsliberalen Ideen der USA und den autoritären Gesellschaftsmodellen Chinas oder Russlands. Für eine europäische Identität müssten die Menschen jedoch nicht auf eine nationalstaatliche verzichten. Wie bei einer Matroschka gibt es innere und äußere Identitätsschichten. Er war der Auffassung, das neue Europa werde das alte in sich bergen. Das Eine – die transnationale Identität (Europäer) – schließe das Andere – die Herkunftsidentität (Deutscher) – nicht aus. Ein syrischer Flüchtling kann sich durchaus als Syrer, Deutscher und Europäer verstehen – wenn alles gut geht.

Natürlich kann Integration auch misslingen. Derselbe Flüchtling kann in Europa in einer Parallelgesellschaft landen. Aber eine solche Abgrenzung kostet viel Kraft, isoliert ihn und lässt ihn kulturell verarmen. Um sich mit einem kosmopolitischen Verständnis von Identität im Sinne von Beck hier zu Hause zu fühlen, müssen also nicht nur die Deutschen, sondern auch die Migranten offen dafür sein, den eigenen Identitätsbegriff zu erweitern. Aber eine gewisse Fremdheit am Anfang müssen beide Seiten tolerieren können, solange das Grundgesetz nicht infrage gestellt wird.

Es hat historisch betrachtet in Europa schon viele große Bevölkerungsverschiebungen gegeben – die europäische Gesellschaft und ihre Identitäten befanden sich schon immer im Fluss. Wer unterstellt, erst jetzt würden sie von außen verändert und beeinflusst, hat Unrecht.

© Tanja Dückers, im Juli 2015

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