Bom día heißt Guten Tag auf Katalanisch

Und wer in Barcelona etwas werden will, tut gut daran, nicht nur Spanisch zu sprechen. Beobachtungen aus der Hauptstadt Kataloniens, dem Gastland der Buchmesse 2007

Tagesspiegel, 7. Oktober 2007

Ich lebte zur Untermiete in einer dunklen, verwinkelten Wohnung in Barri Gòtic, dem mittelalterlichen Zentrum der Altstadt von Barcelona. In dieser düsteren Bleibe mit den zum Greifen nahen Wänden vor den Fenstern hatte man die Nachbarn, die ganze Gasse (wenn man ihren Namen einmal ausgesprochen hatte: Carrer Mestres Casals i Martorell hatte man sie längst abgelaufen) immer dicht am eigenen Ohr.

Die Gegend war schmuddelig. Oft lagen direkt unter meinen Fenstern geplünderte Handtaschen und leere Portemonnaies. In den ersten Wochen war ich jedesmal beim Anblick der herumliegenden Handtaschen erschrocken, nach einigen Monaten nahm ich mir die hübschen Ansichtskarten von der Sagrada Familia und anderen Sehenswürdigkeiten aus dem Diebesgut und verschickte sie in alle Welt. Manchmal waren schon Marken aufgeklebt.

Barcelona ist – abgesehen vom Modernisme-Viertel Eixample – ein Labyrinth. Viele kleine Gässchen winden sich um die ineinander geschobenen Häuschen, dazwischen die großen Märkte La Boqueria auf Las Ramblas und Mercat Sant Antoni mit ihrem unübersichtlichen Gewimmel – der visuelle Gesamteindruck vermittelt: Hier konnten schon immer politische und soziale Nischen existieren, hier riecht es heute noch förmlich nach Geheimnissen, nach umstürzlerischen Plänen, nach Komplott und Subkultur. Die Architektur der Stadt passt perfekt zur Topographie: Barcelona duckt sich in ein schmales Tal zwischen Tibidabo und Montjuic. Wie anders dagegen Madrid: Im kastilischen Hochland gelegen, ist die Hauptstadt von breiten Avenidas durchfurcht, weiß getünchte klassizistische Bauten mit Reiterstatuen und Figurinen säumen die Alleen.

Nigendwo wurde so gegen den Faschismus gekämpft wie in Barcelona. In der Hochburg der Katalanen fanden die heftigsten Gefechte gegen die Franquisten statt. Der Metallarbeiter Buenaventura Durruti wurde zum Helden der Revolution, zum Che Guevara Kataloniens. Doch der Widerstand Barcelonas gegen den Putsch Francos hatte nach der Niederlage der Republik 1939 verheerende Folge für Katalonien. Die autonomen Institutionen wurden abgeschafft, die Selbstverwaltung aufgehoben, und der Gebrauch der katalanischen Sprache in der Öffentlichkeit, der Ausbildung und dem Verlagswesen unterdrückt. Jeglicher Ausdruck der katalanischen Kultur wurde überdies verboten. Dem zentralistisch organisierten Regierungsapparat störten solche sprachlichen Nischen, man witterte Möglichkeiten für Schlupfwinkel ideeller Art. Aber eben auch für gewöhnliche Kriminelle.

Dass sich die Stadtverwaltung entschloss, einige extrem eng bebaute Viertel der Altstadt durch breite Schneisen aufzulockern, hatte nicht nur mit den für die Olympischen Spiele von 1992 notwendigen infrastrukturellen Maßnahmen zu tun, sondern war auch ein Wunsch der Polizei: Man wollte Kleinkriminalität, Prostitution und Drogenkonsum besser bekämpfen können. Wenn man in Barcelona versucht, einen Dieb zu stellen, kann der bequem kilometerweit über die Dächer – dieser Landschaft aus ineinanderverschmolzenden Dächern – entkommen.

Barcelona ist ein Irrgarten auf vielen Ebenen, eine echte Chaotropolis im Vergleich zum staatstragenden, majestätischen Madrid. Die äußerst organisch anmutende Architektur von Antoni Gaudí mit ihren vielen abgerundeten Ecken, dem scheinbar fließendem Stein und den vielen Tiermotiven passt perfekt ins Dickicht der Stadt und ist zum Wahrzeichen Kataloniens geworden. Ähnlich in sich verschmolzen und weich klang für mich die Sprache der Bewohner. Der im katalanischen Schriftbild oft vorkommende Buchstabe X wird wie Sch gesprochen, und dieses vielen Schs verbinden alle Worte, fügen sie zu einem komplizenhaften Reigen ohne Anfang und Ende; es entsteht ein scheinbar zäsurloses Gemurmel, das entfernt an das Portugiesische erinnert.

Als ich 1998 plötzlich mit Rucksack und Laptop in Barcelona stand, um in der Wohnung von Freunden in Ruhe an einem Roman zu arbeiten, sprach ich kein Wort Spanisch. Also entschied ich mich, wie die meisten Ausländer, für die Weltsprache Spanisch und gegen die „Geheimsprache“ von acht Millionen Katalanen, die zumindest was die Geschichte des 20. Jahrhunderts anbetrifft, der sympathischeren Seite angehören. Während der 40 Jahre Franco-Diktatur war Barcelona die Gegenhauptstadt Spaniens, die Hauptstadt der Andersdenkenden.

Zur katalanischen Kultur gehört mehr als „diese Sprache mit den vielen komischen X-en“, wie eine österreichische Austauschstudenten einmal genervt bemerkte. Von bestimmten Feiertagen über kulinarische Bräuche, Tänze, Lieder und eine sehr eigenständige Entwicklung in Malerei, Literatur, Design und Architektur ist sie ein Universum für sich. Im Gegensatz zum individualisierten Lebensstil in einer Stadt wie Berlin erlebte ich in Katalonien sehr viel deutlich zum Ausdruck gebrachte Gemeinschaftlichkeit – wie das Tanzen des Sardanas von Alt und Jung auf öffentlichen Plätzen.

Der Tod Francos im Jahr 1975 führte zu einer Demokratisierungsbewegung in Spanien, der Transición, die insbesondere auch in Katalonien breite Unterstützung fand. Die katalanische, die baskische und die galizische Sprache wurden als Amtssprachen in den jeweiligen Regionen anerkannt. Wer in öffentlichen Einrichtungen Kataloniens Arbeit finden will, muss mit einem Zeugnis beweisen, dass er der katalanischen Sprache mächtig ist. Und Katalonien regiert sich heute in gewissen Teilen der Politik unabhängig von der spanischen Zentralregierung.

Nicht nur Vertreter der älteren Generation, die noch Erinnerung an die Franco-Ära haben, auch junge Leute engagieren sich für die katalanische Sache. Ein junger Journalist aus Barcelona beschwert sich bei mir, dass die Franco-Diktatur nie richtig aufgearbeitet worden sei. Münzen mit Francos Konterfei seien wirklich noch bis Anfang der Neunziger Jahre im Umlauf gewesen. Und es seien die Rechten, die Rechtspopulisten, die schon immer gegen Katalonien gekämpft hätten.

Ferran sitzt mir in Berlin im „Kakao“, einem Schokoladencafé, gegenüber. Voller Fernweh denke ich an meine Leib- und Magenspeise, mein Frühstück in Barcelona: Churros, eine Art Teigröllchen, die man in puddingartige heiße Schokolade eintunkt. Überall in der Altstadt quetschen sich winzige Churros-Bars zwischen die Kioske, Gemüseläden, Nuttenlaufstege und Blumen- und Losverkäufer. Als ich kurz meiner Sehnsucht nach Churros Ausdruck verleihe, erzählt Ferran mir, warum er sich mehr internationale Anerkennung für Katalonien wünschen würde. Ich vergesse die Churros und frage ihn, ob im Frühjahr wieder dieses seltsame Blumen-Buch-Fest gefeiert wurde. Ferran wird sofort enthusiastisch: „Saint Jordi! Aber natürlich! Weißt Du überhaupt, dass ihr, die ihr alle den Welttag des Buchs feiert, einen katalanischen Brauch übernommen habt?“

In Katalonien gibt es einen Feiertag namens Saint Jordi. Es ist der „Tag des Buches“, an dem früher die Männer den Frauen eine Rose und Frauen Männern ein Buch schenkten. Heute schenken sich einfach alle Blumen und Bücher. Der Feiertag ist der 23. April – der Welttag des Buchs.

So wie Saint Jordi von Katalonien aus die Welt eroberte, so sind umgekehrt einige Dinge in die Region (ein echter Katalane würde sagen: Nation) hineingeschwappt: Mit den Stierkämpfen hätten die Katalanen nichts am Hut, meint Ferran. Wenn, dann wurden Stiere nur gejagt, nicht getötet. Es gibt jedoch eine Stierkampfarena in Barcelona, die den Sommer über in Betrieb ist. „Da sitzen nur Deutsche und Japaner, Touristen eben“, sagt Ferran, „oder Zugewanderte.“

In den letzten Jahrzehnten zogen viele Arbeitssuchende aus ärmeren Regionen nach Katalonien. Diese Migration führte zu einer Zunahme der spanischsprechenden Bevölkerungsschichten und verstärkte indirekt die vom Franco-Regime betriebene Zurückdrängung der katalanischen Kultur in Barcelona.

Es müsse noch viel mehr getan werden für die katalanische Sprache, glaubt Ferran. „In der EU sind Lettland, Estland und andere Länder vertreten und voll anerkannt, deren Sprachraum nur ein bis zwei Millionen Menschen umfasst.“ Katalanisch werde von acht Millionen Menschen in vier Ländern – Spanien, Andorra, Frankreich, Italien – gesprochen. „Also“, fragt er, „warum werden wir nicht mehr unterstützt? Wir sind doch keine marginale Gruppe.“

Neben jungen Leuten wie Ferran, die sich für die katalanische Kultur einsetzen, traf ich einige Künstler und Designer, die der Ansicht waren, dass der katalanische Freiheitskampf mittlerweile, über 30 Jahre nach dem Tod von Franco, eher von einem konservativ-provinziellen Geist angehaucht sei. An dem oft in Barcelona zu lesendem Graffiti „Visca Catalunya!“ und der überall wehenden rot-gelb gestreiften Flagge der autonomen Teilrepublik gehen sie achselzuckend vorbei. „Katalonien ist die wohlhabendste Region Spaniens mit dem höchsten Bruttosozialprodukt und der niedrigsten Arbeitslosigkeit – man möchte doch bloß die armen Regionen wie Extremadura und Andalusien nicht mehr mitfinanzieren“, sagt Guillermo, ein junger Grafik-Designer, selbst ein Zugewanderter. Und fügt an: „Früher wurden die Katalanen unterdrückt. Aber heute geht es ihnen ziemlich gut, und sie pflegen immer noch ihren Opferdiskurs.“

Ramón, ebenfalls aus Südamerika eingewandert, ergänzt: „Weil ich nicht von hier bin, geht mir ihr Nationalismus manchmal echt auf die Nerven.“

Auch ich bekam, nachdem die ersten Monate der Begeisterung über die neue Wahlheimat vergangen waren, zu spüren, dass ich nicht von hier war.

Catalunya Radio hatte mich zu einer Sendung zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls eingeladen. Aber kaum stand ich im Sender, lud man mich wieder aus, weil ich nicht in fließendem Katalanisch über den Mauerfall berichten konnte. Man verzichtete lieber auf O-Töne und ließ den Beitrag, mangels geeigneter Gesprächspartner, ausfallen. Kulturelle Veranstaltungen finden nur gelegentlich in Spanisch statt. Offiziell ist Katalonien zweisprachig, in der Praxis habe ich es aber oft als einsprachig erlebt. Viele Freunde stöhnten, dass an der Uni fast alle Seminare in Katalanisch abgehalten wurden, nur Montag morgen um acht Uhr gab es einen langweiligen Kurs in Spanisch, in dem dann alle Ausländer saßen.

Auch gute Kenntnisse der Sprache bedeuten nicht, daß man sich integriert fühlt: Die Berliner Schriftstellerin Corinna Waffender, die Katalanistik als letzte Studentin an der Humboldt-Uni studierte (der Studiengang wurde für nur eine Studentin aufrecht erhalten) und lange in Spanien gelebt hat, sagt: „Ich habe die katalanische Gesellschaft immer als eine geschlossene Gesellschaft empfunden.“

Den Vorwurf des Provinzialismus konnte ich teilweise nachvollziehen. Selbst innerhalb der katalanischsprachigen Welt auf dem spanischen Festland gibt es noch ein gewisses Gerangel zwischen Barcelona und Valencia. Angeblich spricht man vier Stunden weiter südlich von Barcelona Valenciano – was in Wirklichkeit nur ein Dialekt ist. Aber die Valencianer beharren darauf, daß Valenciano auch noch als eigene Sprache anerkannt wird. Bei einem Antrag an die EU stellte sich heraus, daß das Schriftbild beider Sprachen exakt gleich ist. Nur die Aussprache variiert.

Nach dem Ende des Faschismus, dem Ende der Ära des vorletzten Diktatoren in Westeuropa (nur Portugals Salazar blieb länger im Amt), in der das Musizieren auf der Straße verboten war und jeder jeden wegen Verstößen wie „zu bunter Kleidung“ denunzieren konnte, scheint sich Barcelona, zumindest für manche Bewohner, in eine nicht enden wollende Fiesta gewandelt zu haben. Nostalgische Bars wie das „Marsalla“ auf der Calle San Pau, das auf eine fast hundertjähriges Bestehen zurückblicken kann wie auch futuristisch anmutende Clubs und Cafés laden zum Vergnügen ein. Die Stadt wirkt jung. Wer vor sechs Uhr morgens ins Bett geht, ist eine Memme. Man ist permanent muy borracho, sehr betrunken. Es herrscht ein milder Rauschzustand nach dem kollektiv erlittenem Trauma. Immer noch.

Ich merkte schließlich, dass Barcelona für mich nur für begrenzte Zeit der richtige Ort war. Kein Ort fürs zurückgezogene Schreiben. Ich hörte jedes Wort und jedes Tellerklappern von acht Mietparteien! Nicht mal, wenn ich meinen Schreibtisch aufs Dach verlagerte, hatte ich entfernt so etwas wie gedanklichen Eigenraum, Ruhe. Mir fehlte eine Kultur der Gemütlichkeit in den eigenen vier Wänden. Irgendwann sehnte ich mich nach Berlin, nach Leere, Weite, Regen, nach depressiven Mitmenschen, nach verbohrten Einzelgängern, abweisendem Gebrummel und kleinkarierten Nichtrauchern – wie mich – zurück.

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