1-0-1 Intersex (Morgenpost, Juli 2005)

Morgenpost, 22. Juli 2005

Ein Mann ist eine Frau ist ein Mann: Die Neue Gesellschaft für Berliner Kunst (NGBK) in der Kreuzberger Oranienstraße hat ein Faible für Themen, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und Soziologie angesiedelt sind. Im letzten Jahr stellte sie unter anderem Künstler aus, die an oder jenseits der Grenze der Legalität arbeiten („legal/illegal“), jetzt beschäftigt sie sich mit Künstlern und Betroffenen, die sich der Intersexualität, dem Zwitter-Dasein verschrieben haben – ein Thema, das in den letzten Jahren durch den Erfolgsroman von Jeffrey Eugenides „Middlesex“ (2003) eine breite Resonanz erfuhr – Begriffe wie „transgender“ und „intersexuell“ tauchten plötzlich nicht mehr nur in Subkulturkreisen auf.

Dabei besticht jedoch der jahrhundertübergreifende Ansatz von „1-0-1 intersex“, der einen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart schlägt: Man staunt über Aristoteles’ unverkrampfte Äußerungen zu Zwitterwesen und über Uffizien-Skulpturen mit erigiertem Penis und Brüsten. Während in der Antike ein eher pragmatischer Ansatz bestand, zählten in der gelehrten europäischen Welt des 16. und 17. Jahrhunderts die Hermaphroditen zu den Wundern. Sie galten nicht als „Mißgeburten“, sondern als Zeichen Gottes – eben als „Monstrum“ (von „demonstrare“, lat. = zeigen) Überhaupt war früher das Vorkommen von sexuell nicht eindeutig zuzuordnenden Personen nicht so selten wie heute, so daß sich eine größere Anzahl von Menschen – nicht nur Mediziner – mit ihrer Erscheinung und der Interpretation ihres Da-Seins beschäftigen mußte.

Mit der Industrialisierung, der Rationalisierung und einer weniger religiös bestimmten Weltsicht veränderte sich auch der Blick auf den Körper. Konzepte von pathologischen Physiologien verbreiteten sich. Auf einem Foto inspiziert ein befrackter Herr den Unterleib eines Jungen/Mädchens:

„Herr Professor Berthold in Königsberg vermutet bei Untersuchung eines von Heiserkeit befallenen jungen Mädchens aufgrund des laryngoskopischen Befundes eine „Erreur de sexe“ und konstatiert bei der Untersuchung der Genitalien mannliches Geschlecht.“ Es wird auch ein Fall „Erna“ mit nachgewiesener Absonderung von Sperma dokumentiert. Die gynäkologischen Fotos vermitteln eine erstaunliche Nähe zu pornographischen Bildern, zum sogenannten „Beavershot“ (Fotos der Vagina). Der scheinbar objektive Status der Wissenschaft wird somit ironisiert und unfreiwillig untergraben. Frei nach Foucault, der den schönen Satz prägte: „Jedes Verbot ist eigentlich ein Gebot“ machen diese „medizinischen“ Fotos die Lust am Anderen, am Nicht-Erlaubten und Ungeheuerlichen eigentlich erst deutlich.

In dieser Zeit entwickelten sich auch allerhand rassistische Vorstellungen. Einige Hygieniker und Mediziner davon aus, daß die in vielen Regionen Afrikas übliche Beschneidung nur bei stark vergrößerter Klitoris, also einer „Vermännlichung“ der Frau, vorgenommen wurde.

In den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts steht die Frage der Geschlechtszugehörigkeit bei den Olympiade-Funktionären im Raum. Noch in einem Handbuch von 1972 wird geargwöhnt, daß viele Leichtathletik-Weltrekorde von Frauen eigentlich von Männern bzw. Hermaphroditen errungen wurden. Seit 1966 ist die Prüfung der Geschlechtszugehörigkeit obligatorisch. Während die Sportlerinnen früher lediglich unbekleidet an einer Reihe von Medizinern vorbeidefilieren mußten, wurden später Tests zur Feststellung von Chromosomen-Anomalien eingeführt. Sie zerstörten so manche Karriere, wie die der spanischen Hürdenläuferin Maria Patino, bei der zu ihrer Überraschung eine XY-Chromosomie festgestellt wurde. Für den Rest ihres Lebens wurden und werden diese Menschen von allen Wettkämpfen ausgeschlossen. Die Fälle reichen bis in die Gegenwart.

In der Ausstellung wird deutlich, wie sehr die Sichtweise auf Körper und Sexualität(en) von einer Epoche und deren soziokulturellen Leitbildern abhängt und wie wenig objektivierbar Kriterien über Menschen, Körper und Geschlechtlichkeit sind. Man landet wieder bei Judith Butlers alter Weisheit: Das Geschlecht ist ein Konstrukt. Und somit auch alle bipolaren, normativen Annahmen, denen schon die Natur selbst mit der Liebe zum eigenen Geschlecht und dem Vorkommen von Intersexuellen widerspricht.

Die Herangehensweise der zeitgenössischen Künstler an diese Thematik variiert von dokumentarischer Abbildhaftigkeit (Fotos, Videos mit Interviews von Betroffenen, die über ihr Leben berichten) bis hin zu sehr verspielt-cleveren Video-Installationen wie Tyne Claudia Pollmanns Video-Animation „move me – mo vie“ (2005): Eine mit wenigen Strichellinien gezeichnete Figur nimmt immer neue Gestalt(en) an, wobei die Übergänge weich und fließend sind. Oft weiß der Betrachter nicht, mit welchem Geschlecht er/sie zu tun hat. SubRosa & James Pei-Mun Tsang lassen in ihrer Installation „Yes Species“ (2005) Worte wie „Absolute Unsicherheit“ durch einen sonnenbeschienenen Wald gleiten und legen eine Wanderung ins Unendliche nahe. Vor der Toilette stößt der Besucher auf ein großes Schild des Künstlers/der Künstlerin Ins A Kromminga: „Hermaphroditen. Herren und Damen bitte die andere Toilette benutzen.“

Wenn die Ausstellung schließt, sollen die Exponate das erste Intersex-Archiv Deutschlands begründen.

„1-0-1 intersex“
NGBK
Oranienstraße 25, Kreuzberg
www.101intersex.de
Katalog: 15 €

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