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Leseprobe aus Morsezeichen
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Einfache Worte |
Einfache Worte wie Fenster Buch Brot - Worte wie sie hier auf meinem Fensterbrett an einem grauen Novembertag kauernd herumlungern
Ohne Zusammenhang etwas verloren stehen nein gammeln sie in meiner Wohnung vor meiner Haustür in meinen Sätzen herum Karge leere Worte wie Tundra wie alphabetische Einöde, wie eine Einsiedlerin einsilbe ich vor mich hin Worte wie Kieselsteine rundgeschliffen und gewöhnlich wie Blech tönen Wortkarosserien scheppern ohne Inhalt stehen leer an schmutzigen Bordsteinkanten wartend - auf nichts
Heute Worte wie Graubrote oder Kekse von Aldi Wie Kopfsteinpflaster oder Klopapier Worte wie "und" oder "sehr" oder "noch" Die in Hunderten täglich tief gebückt in lange graue Mäntel gehüllt die Satzstraßen durcheilen
Worte fallen heute zufällig wie Schuppen aus den Haaren bedeutungslos wie Kaugummis auf den Boden
Heute fallen Worte ein wenig lose aus meinem vollgerümpelten Mund
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Geheime Botschaft
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Die Stadt klimpert ihr Uhrwerk. Absätze klappern ihr Staccato über Gullierändern. Papierkörbe wiederkäuen Liebesgedichte, und in den Straßenrinnsälen Berlins kleben die Utopien der Buswartenden, die diese in dem Moment, wo sie das Trittbrett des Busses besteigen, geschwind von sich abstreifen. In den Mülltonnen auf den zweiten Hinterhöfen warten abgenagte Lutscherstiele unter Fischgräten, Kartoffelresten und alten roten Socken. Unter leeren Geschirrspülflaschen, abgebrochenen Absätzen, erbrochenen Mageninhalten, zerrissenen Briefköpfen, zerknüllten Beschwerdebriefen, schmierigen und zerplatzten Kondomen, einem zerfetzten Horoskop und endlich ausrangierten häßlichen Hochzeitsgeschenken, unter eitrigen Pflasterstreifen, knackenden Eierschalen, dunkelroten Tampons, Stäbchen mit blutdurchsetztem Ohrenschmalz, unter mit Hakenkreuzen dekorierten Zetteln, Gerichtsvorladungen und ausgerissenen Reklameblättchen für Kapseln zur Erhöhung der männlichen Leistungskraft, unter dreckigen Unterhosen, unter Beipackzetteln von Tranquilizern und zerheulten Taschentüchern wartet mit unstillbarer Neugierde der nasse, lechzende Boden der Mülltonne, gefangen in seinem Grottendasein, ein Spaltbreit Tageslicht, hin und wieder, auf das nächste geheime Geständnis.
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Narziß
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Er ging hinaus zur Brücke, betrachtete sein Spiegelbild im Wasser. Er konnte wieder keinen Makel auf seinem Gesicht erkennen. als er sich am letzten Tag genauestens inspizierte. Dreißig Jahre lang das gleiche Gesicht Dieses Gesicht, dem er versucht hatte, zu entfliehen. Er ging viel unter Leute, verausgabte, überreizte sich selber, ließ die Küsse von Frauen an seinem Gesicht herabgleiten, sammelte ihre Häute. Nichts, er sah aus wie immer, das jungenhafte Gesicht, zart, unverbraucht, immer die gleiche Mimik.
Als er sprang und in die Wasseroberfläche eintauchte, verzerrte sich sein Gesicht vollständig, löste sich auf in der unendlichen Umarmung des Flusses.
Er starb glücklich.
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Buchstaben zum Frühstück
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Ich könnte schreiben. Oder versuchen zu sprechen. Ich könnte nachts in einen Brief klettern. Auf Papier schlafen. Deinen Plastikmund küssen, Bibliotheksausweis. Ich könnte meine Initialen in lehmige Wände ritzen. Die unleserlichen Linien in meinen Händen in ein leises Gemurmel übersetzen lassen. Meine schöne, nasse Zunge zwingen, sich in einen roten, dicken Satz zu verformen. Mein Rückgrat, ein gekrümmtes Wort. Ich könnte schreiben oder versuchen zu sprechen. Ich will es aber nicht.
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Himmelsquadrat
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Es gab nichts, was dem rieselnden Stuck dieser Zimmerdecke gleichkam, dem feinen Zittern der Fensterscheiben, das meine Gedanken zu bändigen vermochte. Unsichtbares Lasso. Ich habe mein quadratisches Herz an den Wänden dieses Zimmers gescheuert. Mit diesem rauhfaserigen Organ, diesem Lappen, habe ich jede Kante, jede Ritze berührt. Türen ohne Klinken jaulten sich in ihren senkrechten Winterschlaf. Das Zimmer lag im sechsten Stock, abseits, himmelwärts, Geheimkabinett, dessen Wände viel dicker erschienen als sie eigentlich waren. Dieses Zimmer ist von einem Tag auf den anderen verschwunden. Unsichtbares Lasso, seither.
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© Tanja Dückers, 5 Gedichte aus "Morsezeichen", Lyrik und Kurzprosa, Bonsai typ
Art Verlag, Berlin 1996
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