Wir wollen bleiben wie wir sind. Robert Pogue Harrisons Kulturgeschichte des Alterns (Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven, Nr. 4 / 2015

veröffentlicht in Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven, Nr. 4 / 2015

Zweifellos eine der interessantesten Neuerscheinungen diesen Herbsts ist Robert Pogue Harrisons „Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns“. Der Stanford-University Professor für französische und italienische Literatur hat ein meinungsstarkes, flammendes Plädoyer für die Vorzüge des Älter- und Altwerdens verfasst. Er beschreibt kenntnisreich, wie in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen mit dem Alter umgegangen wurde und wie beispiellos in der Menschheitsgeschichte der heute so ubiquitär verbreitete Jugendkult ist. Ohne die Meriten der Jugend zu unterschätzen, sieht Harrison in der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung von alten Menschen einen zivilisatorischen Bruch. „Die ewige Jugend“ ist ein Versuch, die Risiken für unsere Zukunft abzuschätzen, die sich aus der bislang ungekannten Verjüngung der westlichen, aber zum Teil auch anderer Kulturen, ergeben.

Dem Buch ist ein sprechendes Zitat von Epikur vorangestellt.

Ein törichtes Leben ist undankbar und angsterfüllt:

Es ist ganz auf die Zukunft gerichtet.

Wer an das Gute, das ihm widerfuhr, nicht mehr denkt,

ist schon heute ein Greis.

Die Jugend fungiert zwar oft als Ideengeber für Neues, gibt einer Gesellschaft Anstöße, sich zu verändern. Wenn aber auch die Alten Berufsjugendliche sind oder sein wollen, wenn auch sie das Jung- und Jugendlichsein für sich reklamieren, gibt es bald keine Altersgrenzen, keine Lebensabschnitte und somit auch keine Jugend mehr. Seit ein paar Hunderttausend Jahren hat sich der Mensch genetisch nicht mehr verändert. Und doch macht heute, so der kalifornische Wissenschaftler, „eine dreißigjährige Frau auf den Tennisplätzen von San Diego eher den Eindruck einer Tochter als den einer Schwester von Balzacs ‚Femme de trente ans’ (‚Frau von dreißig Jahren’).“ Der Leser wird auch selber die Erfahrung gemacht haben, beim Anblick alter Fotos von Jugendlichen früherer Generationen in Gesichter gereifter Erwachsener geblickt zu haben – solche Gesichter begegnen einem heute nicht mehr bei Achtzehnjährigen. Schon Zwölfjährige sahen früher zum Teil wie kleine Erwachsene aus. Dagegen, so Harrison, „bleibt das Gesicht heute (…) unfertig, unreif, selbst wenn es mit den Jahren welkt, ohne jemals die markanten Züge des Alters anzunehmen, die in anderen Kulturen oder Epochen für Greise charakteristisch sind“. Diesen Unterschied bewertet Harrison nicht, er weist aber auf die enorme Wandlungskraft der Erscheinung von „Alter“ innerhalb nur weniger Generationen hin. Der Unterschied liegt, nach Harrison, nicht nur in besserer Ernährung, Gesundheitsvorsorge und Absicherung gegen Naturgewalten, sondern in einer „umfassenden biokulturellen Transformation, die größere Teile der menschlichen Population in eine ‚jüngere’ Spezies verwandelt“ – jünger im Aussehen und Verhalten, in Mentalität und Lebensstil, vor allem aber auch „in ihren Wünschen und Sehnsüchten“.

Harrison will den Leser für die Tatsache sensibilisieren, dass jeweils verschiedene Lebensalter produktiv und wichtig für eine Gesellschaft sind. Kein Alter ist überflüssig, keines kann von einem anderen vereinnahmt oder ersetzt werden. In dem Maße, in dem in unserem Zeitalter das historische Kontinuum immer häufiger erschüttert wird, wird „die Welt all denen fremd, die nicht in ihre Neuerungssucht hineingeboren wurden – die sozusagen in der neuen Zeit nicht heimisch sind“. Es war W. H. Auden, der berühmte amerikanische Lyriker, der Ende der Sechziger Jahre – vier Jahre vor seinem Tod – über sich selbst schrieb (aus: „Doggerel by a Senior Citizen“): „Our earth in 1969 / Is not the planet I call mine.“ Dieses Gefühl einer Weltentfremdung hat sich für viele Menschen seit diesen Worten von Auden noch erheblich verschärft. Ein Älterer hat kaum noch eine Vorstellung davon, was es bedeutet, heute Kind oder Jugendlicher zu sein. Er wird Mühe haben, jüngeren Menschen einen Rat zu geben, wenn es um ihre Entwicklung, um ihre soziale Verständigung, und, wie Harrison mit Blick auf die Gesellschaft als Ganzes schreibt, „um ihren Eintritt in den öffentlichen Raum (…) geht, eine Gesellschaft, für die die jungen Leute irgendwann die Verantwortung übernehmen müssen – oder die Konsequenzen zu tragen haben, wenn sie an dieser Aufgabe scheitern“. Anschließend stellt er die berechtigte Frage, ob und wie lange eine Gesellschaft, die ihre intergenerationale Kontinuität in einem bislang unbekannten Maße verliert, aufgibt, überleben kann.

Überzeugend ist „Die ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns“ auch dann, wenn sie nicht nur die mangelnde Anschlussfähigkeit der „ausrangierten“ Alten kritisiert, sondern auch die Defizite benennt, die für die Jüngeren hieraus entstehen. Eine der zentralen Thesen des Buches lautet, dass die jugendbesessene Gesellschaft „faktisch Krieg gegen die Jugend führt,  der sie angeblich huldigt“ (Harrison). Mit viel Einfühlungsvermögen und Verständnis für die Entwicklung von jungen Menschen schreibt Harrison darüber, wie die Jungen nur scheinbar das Zeitalter „mit ihren technischen Spielereien“ zu beherrschen scheinen; „doch in Wahrheit entzieht das Zeitalter als Ganzes wissentlich oder unwissentlich den jungen Leuten das, was sie am meisten brauchen, wenn sie sich entfalten sollen. Sie nimmt ihnen die Muße, den Schutz und die Einsamkeit, also die Quellen der Identitätsbildung, von der schöpferischen Einbildungskraft ganz abgesehen. Sie beraubt sie der Spontaneität, des Staunens und der Freiheit zu scheitern. Sie enthält ihnen die Fähigkeit vor, Bilder mit geschlossenen Augen entstehen zu lassen, also über die Magie des Kinos, des Fernseh- oder des Computerbildschirms hinaus zu denken.“

Der Leser wird an kritische Stimmen unter den Pädagogen, Kinder- und Jugendpsychiatern und Erziehungswissenschaftlern der letzten beiden Dekaden von Remo Largo bis Michael Winterhoff (so unterschiedliche ihre Konzepte sind) erinnert, wenn es um den Mangel an erzieherischen Willen bei den Eltern geht. Eltern, die sich selbst infantilisieren, lieber beste Freundin/Kumpel als Mutter/Vater der Tochter oder des Sohnes sein wollen, die das Lebensalter ihrer Kinder gern für den eigenen Rückzug aus dem anstrengenden neoliberal geprägten Arbeitsleben und als willkommene „Auszeit“ begreifen, weigern sich häufig, irgendeine Führungsfunktion in der Familie zu übernehmen. Egalitärer Kontakt mit Kindern – auf Augenhöhe – verleugnet die Anerkennung der Tatsache, dass es verschiedene Lebenszeitalter mit unterschiedlichen Aufgaben gibt. Deshalb sprechen einige Fachleute derweil lieber von „Gleichwertigkeit statt Gleichartigkeit“. „Wir fördern die Sache der Jugend nicht, wenn wir ihr Begehren infantilisieren, statt es zu erziehen“, konstatiert Harrison und folgert, dass wir die Jüngeren der Geschichte enterben, „wenn wir die relative Stabilität der Welt zerrütten, auf der kulturelle Identität beruht; oder wenn wir die jungen Leute dazu nötigen, eine Gegenwart ohne historische Tiefe oder Dichte zu bewohnen“.

Einer der eindrücklichsten Sentenzen, von denen „Die Ewige Jugend“ viele enthält, ist: „Der größte Segen, den eine Gesellschaft ihrer Jugend erteilen kann, besteht darin, sie zu Erben, nicht zu Waisen der Geschichte zu machen.“

Ein Apologet des „Alles bleibt beim Alten“ ist der langhaarige Kulturwissenschaftler aus Kalifornien jedoch beileibe nicht: Die Aufgabe der Jüngeren besteht nach Harrison darin, die Vergangenheit zu verjüngen, „indem sie deren Vermächtnis schöpferisch erneuern“. Doch die Waisen, zu dem seiner Meinung nach die Älteren die Jüngeren gerade machen, können sich auf die Vergangenheit, wenn überhaupt, dann nur „wie auf einen fremden, unnahbaren Kontinent“ beziehen. Die Folgen dieses Verlustes sind für Harrison noch nicht voraussehbar, Tatsache ist aber, dass die Vergangenheit – wie das Unbewusste bei Freud – dennoch seine eigene, möglicherweise gefährliche – , Dynamik entfalten kann: „Die Vergangenheit hört nicht einfach auf zu existieren, nur weil wir die Erinnerung an sie verlieren“.

Hochinteressant sind Harrisons evolutionsbiologisch unterfütterten Überlegungen dazu, wie alt wir eigentlich sind. Er stellt ein persönliches, ein (kultur-)historisches und das evolutionsbiologische Alter in einen additiven Zusammenhang: „Eine vieltausendjährige Geschichte schlummert in uns, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Wir mögen die „jüngste“ Gesellschaft in der Geschichte der menschlichen Zivilisation sein, doch gleichzeitig sind wir auch die älteste – und altern mit jedem Jahrzehnt, jedem Jahrhundert und jedem Jahrtausend.“

Nach Harrison ist das Phänomen des Alters in Bezug auf den Homo sapiens weitaus umfassender als das, was die biologischen Grundbedingungen liefern. Denn auch wenn Menschen als Lebewesen den organischen Gesetzen von Wachstum und Verfall gehorchen, sind sie doch „biologische Wesen, die transbiologische Institutionen erschaffen“. Anders gesagt, im Unterschied zu anderen Lebewesen wird der Mensch in von ihm selbst mitgestalte Welten hineingeboren. Kulturhistorische Vergangenheit und Zukunft reichen weit über die Lebensspanne des einzelnen hinaus. Hier kann man bei Harrison Anleihung an die Kulturwissenschaftler und Erinnerungsforscher Jan und Aleida Assmann mit ihrem Konzept von einem „kulturellen Gedächtnis“, erkennen. Als „kulturelles Gedächtnis“ bezeichnen Aleida und Jan Assmann „die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendlanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen“ (Jan Assmann). Das „kulturelle Gedächtnis“ wird ergänzt vom „kommunikativen Gedächtnis“. Letzteres ist auf die mündliche Überlieferung der vorangegangenen drei bis vier Generationen begrenzt. Es umfasst den Zeitraum, in dem aktiv an einem Menschen erinnert, über ihn gesprochen wird (Kinder, Enkel). Es ist alltagsnah und gruppengebunden. Harrison führt nun einen neuen Begriff ein, den der „heterochronen Zeit“: Nach Harrison ist der Mensch ein „heterochrones“ Lebewesen, was bedeutet, dass er über verschiedene Arten von Alter verfügt: ein biologisches, ein historisches, ein institutionelles, ein psychologisches. Denn kein Mensch kann außerhalb von Vermächtnissen, Riten und Traditionen leben, selbst in ihrer Negierung erkennt er sie noch als Orientierungsgrößen an. Und die Befähigung zu Sprache und Schrift verleihen schon ein „historisches Alter“, das ein ganz anderes ist als das biologische Alter des Einzelnen.

Nichts im Universum ist ohne Alter, weder ein Säugling noch das Universum selbst. Insofern sieht Harrison in der Beschäftigung mit dem Ablauf von Zeit eine Grundprämisse unseres Lebens. Wie alt diese Beschäftigung ist, zeigt Harrison eindrücklich mit der Erinnerung an das Rätsel der Sphinx auf: Dem Rätsel zufolge geht der Mensch am Morgen auf vier Beinen, mittags auf zweien am Lebensabend auf dreien.

Über solch ein Thema hätte man sicher auch einen schwerfälligen Wälzer verfassen können. Der Autor hat es bei einem vergleichsweise schlanken Band belassen. Da aber Sinnzusammenhänge in „Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns“ nicht simplifizierend dargestellt wurden, ist dabei ein Buch  entstanden, das in seiner essayistischen Behandlung eines komplexen Problemfeldes vielleicht manchen befremdlich erscheint. Doch es gelingt dem Autor, Erkenntnisse unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen – evolutionsbiologische, medizinische, psychologische, soziokulturelle Befunde wie auch literarische und philosophische Vermutungen, zu einem gut lesbaren, hochinteressanten Text zu amalgamieren. Lust am Denken verbindet sich hier mit genauer Recherche. Solch einen Stil wünscht man sich öfter für Publikationen aus dem Segment Erzählendes Sachbuch.

Robert Pogue Harrison: Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns,  288 Seiten, Carl Hanser Verlag, München 2015

© Tanja Dückers, August 2015

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