Weniger Auto fahren, weniger konsumieren (ZEIT Online, Juli 2015)

veröffentlicht auf ZEIT Online, Juli 2015

Die Deutschen sind nicht unpolitisch, stellt eine neue Studie fest. Aber niemand füllt mehr die großen, alten Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit mit Leben.

Wer die Bundesbürger mal wieder der Politikferne bezichtigt und beklagt, dass sie sich in die Privatsphäre und eine selbstzufriedene Neo-Biedermeierei zurückziehen, hat sich getäuscht. Zwar sind die Themen und die Modi, in denen sich politischer Willen artikuliert, anders als 1968 oder in den friedensbewegten achtziger Jahren, aber es regt sich etwas – vor allem ökologisch und sozial.

Das ist zumindest das Ergebnis einer neuen Studie (Progressive Politik in pragmatischen Zeiten: Politische Narrative gesellschaftlichen Wandels), die im Auftrag des denkwerk demokratie erhoben wurde. Mit politischen Narrativen sind Trends gemeint, die bei einer großen Zahl an Bürgern gut ankommen, von Politik und Qualitätsmedien aber zu wenig zur Kenntnis genommen werden. Die Forscher haben untersucht, in welchen Feldern die Menschen bereit sind, etwas zu ändern oder eine Änderung einzufordern – jenseits der politisch-medialen Elitenarena. Dazu werteten sie Regionalzeitungen, Magazine aus der Kulturszene, Blogs und soziale Netzwerke aus.

Das Ergebnis: Eine Vielzahl von Bürgern ist engagiert, aber meist in lokalen, kleinen Projekten. Dem pragmatischen Regierungsstil der Kanzlerin sei eine Generation gefolgt, die sich in realistischer Weise für kleine Ziele stark mache. Sie kämpfe nicht für eine neue Gesellschaft, setze sich aber für gemeinwohlorientierte Projekte ein. Auffällig ist, dass viele ihr eigenes Engagement zwar als progressiv empfinden, es aber defensiv betreiben: Sie wollen weniger Auto fahren, weniger Müll produzieren, weniger konsumieren, weniger arbeiten.

Das Zuviel verringern

Es scheint nicht nur eine postmaterialistische Einstellung zu sein, die sich hier artikuliert, sondern eine Haltung, die bewusst und umfassend nach Reduktion sucht. Die Menschen wollen ein Zuviel verringern, nicht nur an materiellen Gütern, sondern auch an Optionen, an Beziehungen und Kontakten. Sie fliehen in ihre Kieze und Dörfer, zumindest als Wochenend-Oasen. Ein Phänomen ist der sagenhafte Erfolg des Magazins Landlust. Den heute politisch Aktiven scheint weniger ein revolutionär-vorwärtsstrebender als ein überprüfender, sondierender, aussortierender Charakter zu eigen zu sein. Schlecht muss das nicht sein, stellen die Forscher fest.

Ein Kernbereich, in dem für einen gesellschaftlichen Wandel gekämpft wird, lässt sich unter dem Begriff „Rückeroberung des Stadtraums“ zusammenfassen. Projekte wie Recht auf Stadt, Stadt von Unten, Hack your City, Reclaiming the City sowie diverse Urban-Gardening-Initiativen und Spielstraßen sind Beispiele dafür. Der Begriff Copenhagenize macht sichtbar, wie sehr die dänische Hauptstadt zum Symbol und progressivem Sehnsuchtsort postmoderner Urbanität geworden ist. Auch hier überwiegt das Stadtteilprojekt gegenüber der großen Vision.

Der Wunsch nach besserer Vereinbarkeit von Familie und Arbeit ist ein anderer Kernbereich. Viele Deutsche wollen hier etwas ändern: 87 Prozent der Frauen zwischen 18 und 35 sagen, „dass an gerechten Chancen unabhängig vom Geschlecht noch gearbeitet werden muss“. Der Wunsch ist groß, nicht ständig im Büro präsent sein zu müssen (Home Office) sowie Arbeit und Leben einen neuen Rhythmus zu geben. Das wünschen nicht nur die Frauen. Die Forscher stellen insgesamt eine „gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz für eine Vielfalt moderner Lebensformen“ fest.

Kämpferisch wird der Protest nur, wenn noch klare Feindbilder zu erkennen sind

In den vergangenen Jahren haben außerdem die von den hohen Versicherungsraten gebeutelten Hebammen sowie die unterbezahlten Erzieherinnen viel Unterstützung erfahren. Auch das steht für ein Umdenken in der Bevölkerung. Immer noch kämpferisch sind die Mitgliedern der LGBT-Gemeinschaft, denen es um Selbstbestimmung und Sichtbarkeit geht – sie nutzen noch am ehesten alte Muster gesellschaftlichen Protests. Vielleicht weil sie noch klare Feindbilder verorten können: Homophobe Äußerungen verschiedener AfD- und Pegida-Mitglieder sowie kontroverser Persönlichkeiten wie Thilo Sarrazin, Akif Pirinçci oder Matthias Matussek liefern Angriffsflächen.

Aber nur noch wenige Menschen können mit klassischen Kampfbegriffen wie Freiheit und Gerechtigkeit etwas anfangen. Das erklärt sich möglicherweise aus der Schwierigkeit, sich in einer überkomplexen Welt zurechtzufinden und große Begriffe inhaltlich füllen zu können. Vielleicht sind Wörter wie Freiheit überstrapaziert worden und inzwischen zu Worthülsen verkommen. Dass sie noch nicht wiederentdeckt wurden, liegt wohl am derzeitigen Mangel an politischer Philosophie in Deutschland. Es gibt keine neuen Stimmen, neben vielleicht Jürgen Habermas oder Hans Magnus Enzensberger, die sich solcher Begriffe und Themen annehmen und sie mit zeitgenössischen Inhalten überzeugend füllen. Insgesamt wird laut der Studie die Veränderung makrosozialer Größen (der Kapitalismus, das politische System) heute viel skeptischer betrachtet.

Protestler sind alt geworden

Eine Studie wie der Bertelsmann-Stiftung (Partizipation im Wandel) hatte gezeigt, dass das Alter von Protestlern  deutlich gestiegen ist, so dass man den Eindruck bekommen könnte, zu protestieren und zu demonstrieren sei eine Beschäftigung für Rentner geworden. Vielleicht ist das eine mögliche Begründung für das mangelnde Engagement größerer Teile der Bevölkerung für netzaffine Menschenrechtsthemen – zum Beispiel die Praktiken des NSA. Diese werden zwar schon als „maßloser Angriff auf die Grundrechte“ (Heribert Prantl) empfunden, aber der große kollektive Protest blieb aus. Viele Bürger, so das Resumée der Studie, verstünden allein die technische Sprache nicht, in der über solche Themen gesprochen wird.

Die Sozialwissenschaftler machen allerdings auch den Politikern Vorwürfe. Den deutlichen Willen und den Wunsch zu gesellschaftspolitischen Veränderungen in der Bevölkerung sehen sie in der Politik nicht ausreichend reflektiert. Sie konstatieren: „Eine sozial-ökologische ‚Veränderungserzählung‘, die Ausstrahlung entwickelt und den Wandel mit Zuversicht und Verheißung verbindet, fehlt.“

Damit haben sie leider Recht.

© Tanja Dückers, im Juli 2015
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