Das leise Kichern der Cowgirls. Tokio – ein Streifzug durch den verwirrend bunten japanischen Alltag

Die Welt, 20. November 1999

Es ist fünf vor zwölf. Nachts. Ich laufe durch den Friedhof in Taito-Ku; manchmal beuge ich mich über eine Grabtafel, bleibe vor einem in der Dunkelheit aufragenden Buddha stehen. Ein Mann kommt mir entgegen, sein Blick gleitet durch mich hindurch, als wäre ich nicht eine junge Frau, sondern ein alter Baum. Ich habe mich schon daran gewöhnt, nachts nicht per Taxi nach Hause zu fahren, sondern angstfrei über den Friedhof zu laufen. Die japanischen Männer lesen lieber Manga-Heftchen in der U-Bahn, als daß sie sich die Mühe machen würden, eine normal sterbliche Frau in der Stadt zu belästigen, sagte man mir.

Taito-Ku, wo meine Freunde wohnen, ist das einzige Viertel in Tokio, welches das große Erdbeben von 1923 überstanden hat. Wenn man sich in seinen winzigen Gäßchen aufhält, in denen Blumentöpfe, Körbe, bauchige Flaschen vor den Häuschen stehen, kann man kaum glauben, daß man sich in einer Zwölf-Millionen-Metropole befindet. Die Angst vor Einbrechern ist hier so gering und unbegründet, daß nicht einmal die Türen verschlossen werden.

Natürlich wollte ich wie jeder Tokio-Tourist „ins Zentrum der Stadt“. Also nahm ich die U-Bahn nach Ginza. Und tatsächlich steht man in einem Meer von leuchtschriftüberfluteten Glasfassaden. Doch zwei Dinge überraschen sofort: Die „Hochhäuser“ sind höchstens hohe Häuser, nur der „Tokio-Tower“ in Roppongi hat amerikanisches Format. Wegen der Erdbebengefahr ist die Bauhöhe vergleichsweise niedrig. Mehr unbewußt als bewußt nehme ich noch etwas wahr: Die Abwesenheit von Lärm. Leise gleiten die vernünftig gefahrenen Hondas und Toyotas an mir vorbei, selbst die großäugigen, grell geschminkten Teenies sind still. Stumm läuft ein Trupp Mädchen mit rosa Cowboyhüten, Lederwestchen, in Miniröcken und kniehohen Fellstiefeln vorüber. Kein Gekreische, kein Gejohle. Auch nicht hinter ihnen. Eingetaucht bin ich in eine Kultur des optischen Overkills, die gleichzeitig eine Kultur der sorgsam übertünchten Düfte, der tunlichst gedämpften Geräusche ist. Noch nie habe ich so viele Auslagen in Geschäften gesehen; Farbkombinationen wie in den Sechzigern, Rosa, Orange, Pink und Braun, springen ins Auge, lila Lackstiefel klappern nicht, sondern schweben auf dem kaugummilosen Asphalt an mir vorbei. Rosa Hosenanzüge in der U-Bahn, rosa Markisen über einem Restaurant, selbst der Umschlag, in den die unermüdlich lächelnde Bankdame meine Yen-Scheine schiebt, ist rosa. Ganze Kioske in Rosa. Rosa. Die Lieblingsfarbe der Japaner, behaupte ich. Und Tomoki, einer meiner Freunde, nickt sofort. Eine kindliche Kultur, in der die Polizei als Emblem ein kleines, erschrocken guckendes Häschen trägt, in der keine Frau aussieht, als wäre sie älter als dreiundzwanzig, als wäre sie nicht magersüchtig. In der es so viele „Hello Kitty“-Filialen gibt, wie ich sie noch nie in meinem Leben gesehen habe. In einen dieser blinkenden Läden tappe ich. Plastikmonster. Barbiepuppen. Schminksets für eben diese. Schreibutensilien, in Rosa versteht sich. Spielwaren bis ans Ende der langen silbernen Gänge. Tokio City ist ein riesiger, sauberer Spielplatz, in dem jeder Wunsch geweckt wird, den man selber noch nicht kannte. Unter dem Vorwand, Freunden zu Hause Geschenke mitzubringen, kaufe ich bei „Hello Kitty“ schillernden Unsinn, lasse ich mich in eine der unzähligen Spielhöllen locken, wo ich in erster Linie zu meiner Verwunderung dem Unterricht ferngebliebene kleine Mädchen in Schuluniform erblicke. Die Yen-Münzen rasseln, klappern und verschwinden, betäubt und übersättigt tritt man wieder auf die stillen, breiten Straßen. Und versucht herauszufinden, wo man ist, wo man hinmöchte oder herkommt. Denn es gibt (fast) keine Straßennahmen. Nur Blocknummern. Meine Freunde wohnen in 2-15-6. Ob sie sich denn hier zurechtfinden, fragte ich sie am ersten Abend. Die überraschende Antwort: Nein, wir lassen uns immer ein Fax mit der Wegbeschreibung schicken, wenn wir auf eine Party gehen. Ohne Fax geht hier nichts. Ich schwieg und blickte auf den anderthalb Meter hohen Papierhaufen neben dem Gerät.

Die vorhin im Hauseingang ausgezogenen Schuhe ziehe ich wieder an, um mir das Nachbarviertel Ueno anzugucken. Nach den üblichen rosa Markisen, unter denen sich Spielzeugläden, Fast-Food-Ketten, Souvenir-Geschäfte, Banken oder Boutiquen befinden, gerate ich in einen Park. Während ich zwei jungen Männern hinterherschaue, die tatsächlich weinrote Cowboyhüte tragen, offenbar ist Western-Wear hier gerade geschlechterübergreifend angesagt, entdecke ich eine Unzahl von blauen Zelten. Bei näherem Hinsehen fallen mir die schlecht gekleideten, bärtigen Männer auf, die Wäsche aufhängen, Wasser kochen, Brettspiele spielen, rauchen, in den Himmel schauen. Tomoki erläutert mir später, daß der Staat jedem Penner ein Zelt im Ueno-Park zur Verfügung stellt, um ihn – bei einem einigermaßen akzeptablen Lebensstil – aus der Innenstadt herauszuhalten. Ich bin beeindruckt.

„Do you speak English?“ frage ich nun einen von ihnen, der Vanille-Eis mit roten süßen Bohnen ißt (eine Spezialität hierzulande, die jedoch gewöhnungsbedürftig ist).
„A bittle lit“, bekomme ich zur Antwort. Das ist auch nicht weniger Englisch, als die junge Dame im Tourist Office von sich geben kann. Zurück in 2-15-6, beziehungsweise in Taito-Ku, frage ich meine Freunde, ob sie mich nun für arrogant halten, weil ich enttäuscht darüber sei, daß kaum ein Japaner mehr als drei Worte Englisch kann, ich hatte immer gedacht, Tokio sei so eine internationale Stadt. Doch sie lachen und erklären mir, daß es erst seit ein, zwei Dekaden hier überhaupt so etwas wie nennenswerten Tourismus gebe, bis Mitte des letzten Jahrhunderts lebte Japan in einer „splendid isolation“. Auf dem Land bekommt man noch mehr als in den großen Städten eine Ahnung davon. „Onli schapanise“ hörten wir oft, wenn wir vor einer Hoteltür standen. Und irgend jemand erklärte uns, viele Japaner würden die Europäer für „groß, dick und ungepflegt“ halten – daß man sich selbst natürlich einbildet, nicht unter diese Rubrik zu fallen, macht da keinen Unterschied.

Doch ein Wort verstanden alle Japaner, ob Schulmädchen oder Businessfrau, ob Zeitungsverkäufer oder Schaffner: „Love Hotel?“ Sofort begleitete man uns durch zwielichtig schimmernde Straßen, bis wir meist vor häßlichen Neubauten abgesetzt wurden. Innen jedoch erwarteten uns prunkhafte Hallen des Kitsches: Spiegelumrahmte Betten, türkisschillerndes Mobiliar, in Rosa gehaltene Aquarelle von ineinanderversunkenen Menschen, mit Herzchen verzierte Kondome auf den Nachttischen, knöchelhoher Flokati auf dem Weg in die weitläufigen, dekadenten Bäder. Und das alles für einen wirklich europäischen Preis. Warum ist ein Love- Hotel-Zimmer, für eine ganze Nacht gemietet, billiger als ein quietschendes Jugendherbergsbett? Weil die meisten Japaner die Love Hotels nur am Tag für eine Stunde nutzen. Nachts fallen da die Preise. Wir mauserten uns also zu routinierten Love-Hotel-Absteigern, erweiterten unser Verständnis von (moderner) japanischer Ästhetik um die Begriffe Bad taste und Blubberbarock und sparten eine Menge Geld.

Ob wir nicht etwas trinken möchten, fragte uns die Kellnerin freundlich in einer Mischung aus Japanisch, Französisch und Englisch, am letzten Abend in Roppongi. Ich legte die Stirn in Falten. Am ersten Tag hatte ich noch naiv „ein Wasser“ bestellt. Sehr abwegig erschien mir mein Wunsch nicht. Aber er war es. Es gibt nicht „einfach ein Wasser“ hier, erfuhr ich, nur Wasser mit Pfirsich-, mit Melonen-, mit Litschigeschmack, andernfalls könnte ich eine Grapefruit-Fanta, ein kaffeehaltiges „Kiri“-Getränk oder einen alkoholhaltigen Apfelsaft zu mir nehmen. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß ich mich in einer Kultur befand, in der – zumindest in ihrer modernen Ausprägung – das Pure und Unkomplizierte als das Primitive verachtet wird und für die nur das Sublimierte ein Ausdruck von Savoir-vivre ist. Ergeben bestelle ich ein Litschi-Wasser und starre, während es mir fast die Plomben aus den Zähnen zieht, in die verzuckerte Welt um mich herum.

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